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Unterwegs in Island: Eine Delegation der Piratenpartei reiste in den Norden um sich nicht zu inszenieren.

© dapd

Gewollter Stilbruch: Die Anti-Inszenierung der Piratenpartei

Ob Kaiser Sigismund oder Joschka Fischer: Politik ist Inszenierung. Das weiß auch die Piratenpartei. Sie wollen zwar politische Rituale und Symbole ad absurdum führen. Dabei schreiben sie aber doch nur den nächsten Akt im politischen Theater.

Von Anna Sauerbrey

Der Raum ist staatstragend eingerichtet. Ein lederner Sessel, ein Tisch aus edlem Holz, eine Kristallvase, ein golden gerahmtes Gemälde. Die vier Herren lassen sich fotografieren. Sie schütteln Hände. Sie unterzeichnen eine Erklärung. Die Erklärung enthält: nichts. „Wir, die Unterzeichnenden, kommen überein, uns zu treffen und diese Erklärung zu unterzeichnen. Diese Erklärung enthält nichts Besonderes. Sie ist nicht bindend. Die Unterschrift zieht keine Verpflichtungen nach sich. Der Sinn dieser Deklaration ist einzig und allein, eine Möglichkeit zu schaffen, damit sich Leute treffen und einen symbolischen Bund schließen können“, heißt es in dem Papier. Darunter großspurige Unterschriften, unter anderem die des Bürgermeisters von Reykjavik, Jón Gnarr, und die der drei Berliner Piraten Christopher Lauer, Martin Delius und Alexander Morlang.

Der Moment ist der vorläufige Höhepunkt einer genialen Anti-Inszenierung, die die Aufmerksamkeit der Republik seit dem Einzug der Piratenpartei in das Berliner Abgeordnetenhaus immer wieder in ihren Bann zieht. Vor gut zwei Wochen reiste die kleine Piratendelegation, begleitet von mehreren Medienvertretern, in den kargen Norden Europas, ein bisschen Bildungsreise, ein bisschen Klassenfahrt. Im Haus Höfdi, dem Gästehaus der Stadt Reykjavik, kam es zur Unterzeichnung der Erklärung über Nichts, dort, wo sich 1986 Ronald Reagan und Michail Gorbatschow trafen, um Rüstungskontrollgespräche zu führen – die ebenfalls mit nichts Konkretem endeten.

„Symbolische Handlungen“, schreibt der Dortmunder Politikwissenschaftler Thomas Mayer, „sind solche, die über das, was sie in ihren faktischen Vollzügen unmittelbar selbst sind, hinaus auf nicht anwesende Sinnbezüge verweisen. Ihr Sinn erschließt sich nicht der Beobachtung, sondern nur dem Verstehen.“ Soll heißen: Ein Handschlag ist nicht nur ein Handschlag, sondern er steht für etwas, für Freundschaft, für Übereinkunft, für Verbundenheit und Verbindlichkeit. Mit der Inszenierung einer leeren Erklärung nähren die Piraten einen Generalverdacht, dem symbolische politische Handlungen immer ausgesetzt sind: Nämlich, dass der Sinnzusammenhang, auf den das Symbol verweisen soll, in Wirklichkeit gar nicht existiert, dass das politische Ritual entleert und an die Stelle echter Politik getreten ist, dass der Handschlag das Handeln ersetzt. Die Botschaft der Piraten ist überlaut. Seht her, was wir mit euren politischen Ritualen und Symbolen machen. Wir führen sie ad absurdum. Wir leuchten ihre Hohlräume mit gleißendem Licht aus. Und vor allem: Wir brauchen sie nicht.

Wie lange wird sich die Piratenpartei noch gegen den Anzug wehren können?
Wie lange wird sich die Piratenpartei noch gegen den Anzug wehren können?

© Karikatur: Stuttmann

Man könnte also den Erfolg der Piraten lesen als eine Ermüdung an den herkömmlichen politischen Ritualen, als Bewegung gegen politische Symbole, gegen das ewige Händeschütteln grau-in-grauer Anzugsträger. Doch die Piraten liegen falsch. Authentizität ist in Wahrheit kaum möglich und politische Inszenierungen sind keineswegs überflüssig. Ihre Bedeutung wächst eher, ebenso wie der Wunsch danach. Und die Piraten sind selbst das beste Beispiel dafür.

Richtig ist, dass über die Jahrhunderte hinweg politische Inszenierungen beinahe stetig, mit Ausnahme des Nationalsozialismus, an Glanz und Gloria verloren haben. Ein Beispiel aus der Vormoderne: Das mittelalterliche Gegenstück zum Handschlag der Staatsmänner war der Lehnseid. Er war Nichtangriffspakt ebenso wie Kooperationsvereinbarung. Consilium et auxilium, Rat und Tat, hatten sich diejenigen zu leisten, die ihn schlossen. Als Kaiser Sigismund 1415 Friedrich von Nürnberg mit Brandenburg belehnte – der Beginn der Herrschaft der Hohenzollern in der Mark – fand die Zeremonie auf einer wortwörtlichen Bühne statt, öffentlich, mitten in Konstanz. Hier trafen sich die Staats- und Kirchenlenker gerade zum Konzil. Sie wurden, ebenso wie die Konstanzer selbst, die auf die Straßen strömten, Zeuge, wie das Gefolge des Nürnbergers durch die Stadt zog, hoch zu Ross, mit Fahnen geschmückt. Große Versprechen, großes Kino.

Seite 2: Warum die politische Inszenierung in Deutschland verpönt ist.

Die Piraten versuchen, es anders zu machen, als die anderen.
Die Piraten versuchen, es anders zu machen, als die anderen.

© dpa

Das massenhafte Fahnenschwenken in Deutschland, durch den Nationalsozialismus unmöglich geworden, wurde erst durch die Fußball-WM und auch nur in bestimmten Kontexten rehabilitiert. Der bildgewaltigen Inszenierung von Politik haftet seither der Verdacht der Demagogie an. Pomp und Theatralik sind durch die Medienrevolutionen aber ohnehin als Mittel der Politikvermittlung überflüssig geworden.

Es ist wesentlich leichter, Öffentlichkeit herzustellen. Es braucht nicht mehr, wie im Mittelalter, die hundertfache persönliche Zeugenschaft, es reicht, wenn einige wenige Kameras anwesend sind. Als Pfand zur Einhaltung von symbolischen öffentlichen Verpflichtungsakten dient in der Demokratie weniger die persönliche Ehre, als das drohende Ende einer Legislaturperiode. Zudem verpflichtet die Demokratie zu einem nüchternen Stil. Schon Gerhard Schröder, der sich mit Zigarre, Brioni-Anzug und VW Phaeton inszenierte, war nicht gleich genug.

Große Gesten erzeugen heute Misstrauen – das galt selbst für Willy Brandts Kniefall und das gilt erst recht für Karl-Theodor zu Guttenberg, der sich vor der glitzernden Kulisse des Times Square in New York als Mann von Welt ausstellte. Inszenierungen sind nüchterner geworden – und verkürzt. Nicht mehr das ausschweifende Spektakel ist gefragt, sondern der Aphorismus. In der Fernseh-Demokratie gewinnt der, der seine Botschaft in 30-Sekunden-Statements zu verpacken mag.

Die letzte, kleine Reform des deutschen Politikstils fand vor gut zehn Jahren statt, als Regierung und Bundestag nach Berlin zogen. Damals wurde diskutiert, ob die neue Glas- und Glanz-Architektur der Hauptstadt denn angemessen sei für die deutsche Politik, ob ein zu scharfer Bruch mit der selbst auferlegten Bonner Bescheidenheit Keimzelle einer neuen politischen Megalomanie werden könnte. Die Ängste haben sich als unbegründet herausgestellt. Aus der wuchtigen Architektur des Regierungsviertels ist kein „Viertes Reich“ erwachsen. Im Gegenteil.

Die Digitalisierung, die bald nach dem Umzug die Politik erfasste, hat das Potenzial, Inszenierungen noch weniger theatralisch werden zu lassen. Das Web fördert eine Ästhetik des Selbstgemachten und des Vorläufigen. Sowohl die Situation, in der politische Botschaften konsumiert werden, als auch jene, in denen sie inszeniert werden, verlieren an Statik. Die Tagesschau wird abgelöst durch wacklige Youtube-Videos und jederzeit konsumierbare Podcasts. Die Bühnen verlieren an Relevanz.

Steffen Seibert nimmt zwar noch teil an den Ritualen der Bundespressekonferenz. Doch er twittert die Botschaften der Kanzlerin auch, der Text wird losgelöst vom Podest, vom seriös blauen Hintergrund, vom perfekt sitzenden Krawattenknoten. In der Theorie kann sich jeder jederzeit mit seinem Smartphone in einen der zahlreichen Livestreams von Plenar- und öffentlichen Ausschusssitzungen, von Parteitagen und Pressekonferenzen einschalten. Die Wähler konsumieren Politik unterwegs, in der S-Bahn, beim Warten an der Supermarktkassen. Diese vermeintliche Allgegenwart des Politischen mache die punktuelle Inszenierung überflüssig, meinen die Piraten.

Neu ist diese Einschätzung nicht. Schon das Stakkato der Meinungshappen in den Fernsehtalkshows wurde abgelehnt mit dem Argument, es finde kein echter Austausch statt und überhaupt, der Wähler könne ja besser die Parteiprogramme lesen. Doch wer liest schon Parteiprogramme, wer schaut schon Bundestag live? Politik ist zwar verfügbarer geworden, doch das Zeitbudget der Wähler ist nicht gewachsen, im Gegenteil. Die Flut der Informationen, der Kampf um die Aufmerksamkeit, wird durch das Internet noch gesteigert. Gerade deshalb gewinnen Inszenierungen an Bedeutung.

Der Politikwissenschaftler Ulrich Sarcinelli hat die Darstellung von Politik 2003 als „Wirklichkeitsgenerator“ bezeichnet. Sie sei nötig, weil der Wähler nicht jederzeit unmittelbar an der Politik teilnehmen könne. Es bedürfe daher der gelegentlichen Inszenierung, um deutlich zu machen, dass sie dennoch stattfindet. Das Argument bleibt auch im Livestream-Zeitalter richtig.

Seite 3: Wie sich die Piraten in eine lange Tradition des Stilbruchs stellen.

Inszenierungen sind Momente der Botschaftsverdichtung, laut und bunt genug, um die Aufmerksamkeit einen Moment lang von der Vielfalt anderer Eindrücke zu lösen und lange genug zu fesseln, um eine Botschaft zu transportieren. Die Inszenierung erfüllt damit wichtige Funktionen, gerade für die demokratische Ordnung. Sie schafft gemeinschaftliche Bezugspunkte und stärkt, wie auch der Politikwissenschaftler Andreas Dörner schreibt, damit das Gemeinsamkeitsgefühl.

Zudem verpflichtet sie die Schauspieler, die Politiker, auf die Inhalte der Inszenierung. Das Treffen zwischen Gorbatschow und Reagan, das die Piraten mit ihrer Inszenierung aufs Korn nehmen, war schließlich keineswegs inhaltsleer, auch wenn es nicht zu einer konkreten Abrüstungserklärung führte. Historiker messen ihm dennoch große Bedeutung für das Ende des Kalten Krieges bei, beide Seiten fanden zumindest Gelegenheit, die jeweils andere Verhandlungsposition besser zu verstehen.

Dass auch die Piraten auf Inszenierungen zum Transport ihrer Botschaften angewiesen sind, zeigt ebenfalls die eingangs geschilderte Szene bei der Unterzeichnung der Erklärung über Nichts in Island. Die Piraten begnügen sich nicht mit dem Verzicht auf Inszenierungen, sondern formen aus der Ablehnung vermeintlich leerer Rituale wiederum ein eigenes Ritual. Aus dem Zitat vergangener Inszenierungen wird ein neues, eigenes Stück geschustert.

Das Schlagwort der Piraten ist zwar die Authentizität, die Einheit zwischen Äußerlichkeit und Innerlichkeit, zwischen Sein und Darstellung. Doch oft ist es schwierig, die Grenze zu ziehen.

In die Welt des Parlamentarismus zogen die Piraten ohne Anzüge, wo sie gehen und stehen, verkabeln sie sich, ihre Laptops sind zu ihren Wappen geworden. Ob sie es wollen oder nicht: Damit stellen sie sich wiederum in eine lange symbolische Tradition, die des gezielt inszenierten Bruchs mit Ritualen und Stilen. Als Symbol des Bruchs mit dem Ancien Régime hoben die französischen Revolutionäre die Kleiderordnung auf. Sie waren Sansculotten, ohne die Kniebundhose der Adeligen gekleidet.

Joschka Fischer ließ sich in weißen Turnschuhen zum hessischen Umweltminister vereidigen, eine Inszenierung, die Helmut Kohl nur aufwertete, indem er sie in der „Bild am Sonntag“ als „Unverfrorenheit“ bezeichnete. Nun musste sich das Berliner Abgeordnetenhaus mit der Kopfbedeckung des Piraten Gerwald Claus-Brunner befassen, der ein Palästinensertuch um den Kopf trägt.

Gerade der Bruch mit den bestehenden Regeln des politischen Stils zeigt, wie schwierig die von den Piraten versprochene Authentizität zu realisieren ist. Auf der Bühne gibt es keine Unmittelbarkeit des Ausdrucks. Das Publikum versieht Handlungen und Gegenstände automatisch mit einer Interpretation. Selbst, wenn das Palästinensertuch gar nicht so gemeint ist: Für die ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, ist es Ausdruck einer „anti-jüdischen Gesinnung“.

Der Erfolg der Piraten speist sich nicht aus dem Verzicht auf Inszenierung. Sondern daraus, dass mit der Angleichung der Grünen an den herrschenden Stil die Rolle des Enfant terrible unbesetzt war. In der Republik einer Kanzlerin, die lediglich die Farbe ihres Jacketts wechselt, ist diese Inszenierung einfach bunter und unterhaltsamer.

Wie lange die Piraten ihren Stil durchhalten, ist allerdings fraglich. Joschka Fischer wechselte relativ bald die Turnschuhe gegen Anzugschuhe und war als Außenminister stets in Drei-Teiler-Uniform. Zumindest bei manchen Piraten sind erste Anpassungsprozesse bereits zu beobachten. Fabio Reinhardt jedenfalls hat sich schon Hemd und Jackett zugelegt.

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