zum Hauptinhalt
S-Lost verursacht in geringer Dosis schwere Verätzungen, in hoher Dosis tödliche Vergiftungen.

© dpa

Giftgas: Das deutsche Erbe in Libyens Wüste

Wie gefährlich sind Muammar al Gaddafis Chemiewaffen? Seit in Libyen der Ausnahmezustand herrscht, ist das Gespenst vom Giftgas made in Germany auferstanden.

Manche Fehler werden nie verziehen, und das zu Recht. So hat die Welt nicht vergessen, wer Libyens gefürchtete Chemiewaffenanlage in Rabta baute: Es waren deutsche Ingenieure, die für Muammar al Gaddafi in den 80er Jahren die größte Giftgasfabrik der Nachkriegszeit errichteten. Firmenchef Jürgen Hippenstiel-Imhausen kassierte 1990 dafür zwar fünf Jahre Gefängnis – den Millionengewinn aus dem schmutzigen Exportgeschäft durfte er jedoch behalten. William Safire, Starkolumnist bei der „New York Times“, gab der Affäre den berüchtigten Namen, der bis heute am deutschen Image klebt wie Senfgas an der Haut: „Auschwitz in the Sand“.

Erst 2004 trat Gaddafi, unter massivem Druck der USA, dem Chemiewaffenabkommen bei und lieferte auch gleich einige tausend Zentrifugen ab, die er für die mögliche Entwicklung von Atombomben gehortet hatte. Der damalige US-Präsident George W. Bush zelebrierte die „Entwaffnung“ des Diktators als Paradebeispiel für erfolgreiche Abrüstungspolitik. Fortan überwachte die „Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons“ (OPCW) der Vereinten Nationen die Vernichtung des chemischen Waffenarsenals. Die Bereinigung der Rabta-Affäre schien nur noch eine Frage der Zeit.

Seit in Libyen der Ausnahmezustand herrscht, ist das Gespenst vom Giftgas made in Germany jedoch auferstanden. Gaddafis Gegner befürchten, der weidwunde Diktator könnte zum Äußersten greifen und die Massenvernichtungswaffe gegen sein eigenes Volk einsetzen.

Die OPCW erklärte dagegen vergangene Woche, Gaddafi sei gar nicht mehr in der Lage, chemische Kampfstoffe einzusetzen. Von den ehemals 23 Tonnen Senfgas, die Libyen der OPCW gemeldet hat, seien nur noch 9,5 Tonnen übrig, die von Militär bewacht würden. Zudem hätte Libyen alle Raketen vom Typ Scud-C (Reichweite etwa 450 km) und 3300 für Chemikalien geeignete Granaten vereinbarungsgemäß zerstört.

Das Vertrauen der OPCW in die Vertragstreue des „Verrückten Hundes des Nahen Ostens“ (Ronald Reagan) ist einigermaßen überraschend. Gemäß der Abkommen hätte das libysche Senfgas bereits bis Ende 2008 vernichtet sein sollen. Wegen angeblicher technischer Probleme beantragte Libyen jedoch Aufschub um Aufschub – bis Sommer 2010 hatte die Vernichtung des Senfgases noch nicht einmal begonnen. Anfang November meldete die OPCW dann, dass Libyen in der Chemiefabrik Ruwagha immerhin eine Tonne Senfgas zersetzt habe. Wegen Umbauarbeiten musste die Anlage jedoch gleich wieder für mindestens einen Monat gestoppt werden. Zudem wurde seit Jahren die ehemalige Giftfabrik Rabta umgebaut, um dort zusätzliche Kapazitäten für die Chemiewaffenzerstörung zu schaffen. Wenn die Meldung der OPCW stimmt, hätte Libyen innerhalb von zwei Monaten plötzlich alle technischen Probleme gelöst und alleine in Ruwagha 59 Prozent seiner Senfgasvorräte vernichtet.

Doch auch wenn in Libyen „nur“ noch 9,5 Tonnen Senfgas lagern, geht davon eine erhebliche Gefahr aus. Die klebrige Flüssigkeit (die gar kein Gas ist) wird chemisch als „S-Lost“ bezeichnet – nach den Anfangsbuchstaben zweier Mitarbeiter des deutschen Chemiewaffenpioniers und Nobelpreisträgers Fritz Haber, aus dessen Labor auch das Gaskammergift Zyklon B stammt. S-Lost durchdringt Kleidung und gelangt über Haut, Augen und Lunge in den Körper. In geringer Dosis verursacht es schwere Verätzungen, in hoher Dosis tödliche Vergiftungen. Bereits mit einigen Hundert Gramm und einer konventionellen Sprengladung lassen sich, etwa bei einer Massendemonstration, verheerende Wirkungen erzielen.

Noch weitreichender wären die Auswirkungen, wenn der Kampfstoff in die Hände internationaler Terroristen gerät, die über beste Kontakte mit Libyen verfügen. Die Chemieanlage Ruwagha steht im Bezirk al Jufrah im Landesinnern, etwa 600 Kilometer südöstlich der Hauptstadt. Wenn die dort stationierten Soldaten desertieren, ist das Senfgas außer Kontrolle. Für diesen Fall sollte die internationale Staatengemeinschaft bereit sein, Gaddafis Giftarsenale militärisch zu schützen. Das deutsche Erbe in die Hände von Terroristen geraten zu lassen, wäre ein weiterer unverzeihlicher Fehler.

Der Autor ist Mikrobiologe und Direktor des Instituts für Biologische Sicherheitsforschung in Halle.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false