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Sie leben noch.

© dpa

Giftgas-Massaker in Syrien: Mit offenen Augen

Darf man Fotos von toten syrischen Kindern zeigen? Verstümmelt, entstellt, namenlos? Bislang war das ein Tabu. Doch das bricht jetzt. Dabei geht es um Leid, Mitgefühl, Würde - und um Bilder als Kriegswaffe.

Viele liegen da mit offenen Augen. Hingestreckt auf dem Fußboden, kein Schmerz krümmt ihren Körper, keine Verletzung, kein Blut ist zu sehen. Nur manchen quillt eine blasige Flüssigkeit aus Mund oder Nase. Die Kinder sind Opfer der Giftgasangriffe in Syrien, die Agenturen bieten den Medien Dutzende solcher Fotos an.

Es sind, so heißt es, Fotos der syrischen Opposition. Beweisfotos. Seht her, das sind Assads Opfer: Männer, Frauen, Zivilisten, ganze Familien und besonders viele Kinder. Aufgebahrt in Reihen, manche mit Zetteln auf der Stirn, wegen der Identifizierung, in Leichentücher gehüllt oder mit Laken und Eisblöcken bedeckt, wegen der Kühlung. Fast immer sind die Gesichter zu sehen, schrecklich viele offene Augen.

Der Schock stellt sich auf den zweiten Blick ein

Bislang haben wenige Medien in Deutschland diese Bilder veröffentlicht. Die meisten halten sich an das ungeschriebene Gesetz, Kriegstoten nicht ihre Würde zu rauben, indem man sie öffentlich zeigt, namenlos, verstümmelt, entstellt. Sind diese Bilder anders als Fotos vom Marktplatz nach einem Selbstmordattentat, mit zerfetzten Leibern und Leichenteilen, sind sie anders, weil man nichts „Schlimmes“ auf ihnen sieht? Unschuldige, wie schlafende Kinder, ein Tod, den man anschauen kann? Der Schock stellt sich auf den zweiten Blick ein, dafür um so nachdrücklicher. Der aktuelle „Spiegel“ zeigt nun einige der Fotos, auf dem Titel ein Mädchen mit lockigem Haar, mit absichtsvoller Unschärfe weichgezeichnet. Die Schaumblase in der Nase kann erst sehen, wer das Foto – jetzt klar und scharf – weiter hinten im Heft wiederfindet. Bildunterschrift: „Dürfen wir wegschauen, wenn kleine Kinder sich unter Muskelkrämpfen zu Tode zittern?“

Hinschauen. Wegschauen. Bilder im Krieg sind Waffen, das ist jedem Zeitungsleser, jedem Fernsehzuschauer klar, spätestens seit Vietnam. Sie sollen aufrütteln – mit Abbildungen toter Zivilisten –, zu Militärschlägen motivieren oder sie legitimieren. Sie sollen – etwa mit Bildzeugnissen toter Feinde – demoralisieren, Stärke demonstrieren. Im Gefängnis von Abu Ghraib fotografierten und filmten US-Soldaten, wie sie irakische Gefangene misshandelten. Das Bild als ultimative Demütigung: Ceausescu, Saddams Söhne, Gaddafi, seht her, sie sind mausetot. Susan Sontag schrieb in ihrem Essay „Das Leiden anderer betrachten“ über Kriegsopferfotos: „Sie vereinfachen. Sie agitieren. Sie erzeugen die Illusion eines Konsensus.“ Das Bild des Kriegstoten nennt sie den „letzten Schuss“, einen Akt der Inbesitznahme.

Vietnam, Kosovo, Nahost: Bilder von Kindern werden immer wieder eingesetzt

Welchen Konsens erzeugt der Anblick eines von Giftgas getöteten Kindes? Kinder sind die garantiert unschuldigsten Opfer in Kriegen, in Bürgerkriegen, ihr Leid schreit zum Himmel. Deshalb ist es richtig, den Fokus auf die Kinder in Vietnam, im Kosovo, in Syrien zu richten, um in der internationalen Politik die Moral ins Spiel zu bringen, in Amerika, Europa, bei der UN. Aber sind Bilder die beste Methode dafür, bei aller Macht, die sie über uns Augenmenschen ausüben?

Auch Kinder haben ein Recht auf das eigene Bild, auch Kinder dürfen nicht als Leidende, als Tote von den Medien in Besitz genommen werden. Der gute Zweck heiligt nicht die Mittel, zumal Kinderbilder ja besonders gern für Kriegspropaganda verwendet werden, etwa im Nahen Osten von der Hamas. Berühmtestes historisches Beispiel: das Foto des Mädchens Kim Phúc, das zwischen anderen weinenden Kindern nach einem Luftangriff nackt auf der Straße läuft, wurde zur Ikone der Vietnamkriegs-Gegner und trug dazu bei, dass die Stimmung in Amerika kippte. Aber das Bild erzählte nicht ganz die Wahrheit: Kim Phúc war nicht Opfer einer US- Napalmattacke, sondern eines Angriffs der mit den Amerikanern verbündeten Südvietnamesen.

Wenn die Hamas mit den Bildern toter Kinder agitiert, ist das verwerflich, aber wenn der Westen dank der Bilder toter Kinder auf die Gewalt in Syrien jetzt vielleicht reagiert, ist das legitim? Vielleicht steckt in der Bigotterie des weichgezeichneten „Spiegel“-Titelbildes die ganze Widersprüchlichkeit der zivilisierten Welt. Wir lassen uns gerne empören und erschüttern, machen uns gerne Gedanken über die Würde des toten Mädchens. Aber insgeheim sind wir froh, dass uns der wahre, unerträgliche Anblick auch dieses Krieges erspart bleibt.

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