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Wer ist Gott, dessen Name hier auf der Hauptsynagoge der Israelitischen Kultusgemeinde in München verewigt ist? Und wie kann in postmoderner Zeit noch über ihn diskutiert werden? Fragen, die sich an Ostern vor der „1. Konferenz zum Berliner Dialog der Religionen“ im Mai noch einmal besonders dringend stellen.

© dpa

Glauben: Missionieren ist aus der Mode

Karfreitagsbitte? Ist out. Dialog der Religionen? Ein heikles Thema, angesichts der noch immer aufrecht erhaltenen Wahrheitsansprüche monotheistischer Religionen. Für den pluralistischen Kontinent Europa entpuppt sich die Religionsfreiheit zunehmend als Problem.

Die Auftaktveranstaltung zum „Berliner Dialog der Religionen“ im Januar fand unter einem 3,60 mal 6,15 Meter großen Historiengemälde statt. Es zeigt protestantisch-unierte, anglikanische, katholische, serbisch-, russisch-, rumänisch- und griechisch-orthodoxe sowie muslimische Politiker und einen als Juden geborenen Premier beim Abschluss einer vierwöchigen Sicherheitstagung. Allerdings sollte dieses Bild von 1881 kein Programm für den Religionsdialog im Roten Rathaus vorgeben; hatte doch während des Berliner Kongresses, den es verewigt, der deutsche Reichskanzler muslimische Diplomaten gelegentlich in provokativer Herablassung mit Pickelhaube empfangen.

Beim Religionsdialog war jeder Dominanzverdacht von vornherein auszuschließen. Berlins Regierender Bürgermeister, dem die Rolle des anno dazumal als Ordnungsmacht agierenden Otto von Bismarck zufiel, plädierte dafür, friedliches Zusammenleben „von Menschen unterschiedlicher ethnischer, religiöser oder kultureller Herkunft“ immer wieder zu erlernen. Der Direktor einer Hamburger Akademie der Weltreligionen rügte zwar im Impulsreferat „die unselige Tradition von religiösen Absolutheitsansprüchen“, rühmte aber unter Einsatz des Zauberworts „Vernetzen“ die „wechselseitige Anerkennung“ in Gleichberechtigung. Aus den über 250 Religionsgemeinschaften der Pluralismushauptstadt Berlin hatten sich nicht nur Vertreter großer Institutionen in der missionsfreien Festsaalzone eingefunden, sondern auch die Gemeindegruppe Frauentee, das Multireligiöse Friedensgebet zum Karneval der Kulturen oder das Sufizentrum Berlin – Der Wahre Mensch e. V. Gleichwohl blieb die eingangs gestellte Frage „Wie wird Unkenntnis übereinander zur Neugier, voneinander zu lernen?“ fürs Erste ungelöst.

Dass Wenigvoneinanderwissen und Nebeneinanderherleben im schlimmsten Fall ein Zeitbombenrisiko produziert, war Europas Säkulargesellschaften am 1. Januar durch den Anschlag auf die koptische Minderheit in Alexandria dramatisch demonstriert worden. Der Multikulti-Optimismus des späten 20. Jahrhunderts ist ja seit geraumer Zeit durch „clash of cultures“- Visionen eingetrübt; auch die ökumenische Euphorie zwischen den Kirchen hat sich, frustriert durch römisch-katholische Abgrenzungssignale, zu Skepsis gewandelt. Weltweit sammeln sich fromme Gruppierungen zur fundamentalistischen Identitätssicherung: Sie konstruieren im Extremfall ihre Konflikte miteinander, wie jüngst das afghanische Terrorkommando mit seiner Reaktion auf die Koranverbrennung eines amerikanischen Predigers, über virtuelle Bande – schaffen dabei aber folgenschwere Fakten für alle anderen. Ist dieser religiöse Fundamentalismus auf dem Vormarsch? Gerade wird die abendländische Gewissheit, muslimische Kollektive seien aufgrund fehlender Aufklärungserfahrung für Pluralismus ungeeignet , durch die Forderungen der arabischen Rebellion vom Winde verweht.

Der Kenntnisstand vieler Gläubiger zum Credo „der anderen“ ist bescheiden: Mit dem Multikulti-Elan und der ökumenischen Zuversicht schrumpft auch die Bereitschaft, für frische Information über „das Fremde“ Speicherplatz freizugeben. Dem sollte der Neugier-Appell des Senats offenbar abhelfen.

Aber: Was treibt Gläubige unterschiedlicher Bekenntnisse zueinander? Gibt es reine Neugier ohne Erkenntnisinteresse? 1822 wurde in Berlin, angeregt durch den britischen Botschafter, die Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden gegründet. Der allgemeine Missionsboom segelte damals, legitimiert durch den universalen Rettungsanspruch des Christentums, im Fahrwasser des prosperierenden Kolonialismus. Die Dreifaltigkeitskirche in der Friedrichstadt, wo Otto von Bismarck seine Konfirmation empfing, war Treffpunkt der Judenmissionare. Zur „Jahresfeier“ der Gesellschaft 1868 fragte dort der Konsistorialrat Souchou, ob „unablässige geistliche Fürsorge für die Juden“ nicht Gottes Auftrag sei. „Wollen wir sie nicht aufsuchen, nicht ihnen nachgehen, nicht mit dazu helfen, dass die Fesseln des Irrwahns, von denen sie noch gehalten sind, gesprengt werden?“

Im Gegensatz zu diesem erklärten Proselytenprojekt ging es dem 1890 von protestantischen Wissenschaftlern, Juristen und Unternehmern in Berlin gegründeten Verein zur Abwehr des Antisemitismus (VAA) offiziell um den Schutz der Minderheit vor Agitation – dabei aber letztlich um den Zusammenhalt der deutschen Nation. Man setzte erzieherisch darauf, dass assimilierte Juden jene angeblichen Unarten ablegen, die sie als Resultat langer Diskriminierung angenommen hätten. Als sich der Verein, 2550 Mitglieder stark, 1933 auflöst, hat er sein Ziel, die Bevölkerung gegen den Antisemitismus zu wappnen, verfehlt. Noch kürzere Zeit bestehen in derselben Epoche die Amici Israel, gegründet 1926. 3000 Priester, 328 Bischöfe, 19 Kardinäle gehören der Vereinigung an. Man fördert zwar auch Judenmission durch die Macht des Gebets, erstrebt vor allem aber Versöhnung zwischen Juden und Christen, die Information der Katholiken über die jüdischen Ursprünge des Neuen Testamentes. Zum Verbot der Amici Israel führt dann 1928 ihr Antrag, ein berüchtigtes Gebet im Karfreitagsgottesdienst zu korrigieren.

Die 1600-jährige Geschichte dieser Karfreitagsbitte spiegelt diverse kirchliche Haltungen zu „den“ Juden. Das Gebet, Gott möge jene von „Finsternis“, von „Verblendung“, vom „Schleier“ auf ihren Herzen befreien, wurde im Mittelalter ergänzt durch die Charakterisierung der Hebräer als treulos („perfidus“). 1560 verfügte der Papst, bei dieser Bitte die Karfreitagskniebeuge zu unterlassen. Den Reformversuch der Amici Israel lehnte die Kurie ab: mit Verweisen auf das Alter der Liturgie und auf die Gottesmord-Verantwortung. Nach dem Holocaust bastelte man im Vatikan von 1956 bis 1970 an der heutigen Bittenversion; ermutigt durch das Konzilsdekret „Nostra Aetate“ (1965), in dem Gottes gültiger Bund mit Israel gewürdigt wird. Nun lautet der Text: „Lasst uns auch beten für die Juden, zu denen Gott, unser Herr, zuerst gesprochen hat: Er bewahre sie in der Treue zu seinem Bund und in der Liebe zu seinem Namen, damit sie das Ziel erreichen, zu dem sein Ratschluss sie führen will … Erhöre das Gebet deiner Kirche für das Volk, das du als Erstes zu deinem Eigentum erwählt hast: Gib, dass es zur Fülle der Erlösung gelangt.“ Schließt ein solcher Sonderweg die Mission an Abrahams Nachkommen aus?

Seit 2008 Benedikt XVI. für den – selten zelebrierten – tridentinischen Messritus eine neualte Fürbittenfassung eingeführt hat, eskaliert die Missionsfrage zum Antisemitismustest. Da sagt man nun (ohne „Finsternis“, „Schleier“ und „perfidus“, aber mit Kniebeuge): „Lasst uns auch beten für die Juden, auf dass Gott, unser Herr, ihre Herzen erleuchte, damit sie Jesus Christus erkennen, den Retter aller Menschen.“ Ist das der Kotau vor antisemitisch kontaminierten Traditionalisten: ein politisch-dogmatisches Signal? Naiver liturgischer Historismus? Sendungsdynamik?

Während Benedikts Revival der Judenmission weithin als Absage an den christlich-jüdischen Dialog gedeutet wurde, verwies das lakonische Minderheitsvotum eines New Yorker Rabbiners auf die innere missionarische Logik monotheistischer Systeme; als Beleg zitierte der Gelehrte ein jüdisches Gebet, das den Tag ersehnt, an dem alle Menschen Jahwes Namen anrufen werden. Obwohl dies Argument den Papst kaum entlastet – da seine Zeichen eben politisch wirken, da die Schoah von Wirkungen der Judenmission nicht zu trennen ist –, stimmt der Gedanke: Wer monotheistische Bekenntnisse samt Wahrheitsanspruch erlaubt, soll ihre Propagierung nicht kriminalisieren. Aber Missionieren ist aus der Mode: seit die kolonialistische Verbreitung eurozentrischer Religiosität (Missionarsstellung!), seit christliches Selbstbewusstsein als fragwürdig, die Idealisierung „anderer“ Kulturen als zeitgemäß gilt. Ist Mission immer menschenverachtend? Während Einladungen zum Islam vielerorts offen ausgesprochen werden, müssen getaufte Muslime ihre Identität verheimlichen. Nicht nur in arabischen Ländern, wo Geheimdienste und Fanatiker sie bedrohen, sogar: in Italien.

Wo der Staat sich wünscht, dass sich seine Religionen – unter der Ausklammerung lästiger Wahrheitsfragen! – friedensstiftend füreinander interessieren, stört das Thema Konversion. Ebenso wenig passt der entschiedene Credo- Wechsel in das postmoderne Spielfeld der Patchwork-Identitäten. Angesichts aktueller Epochenbrüche in benachbarten Kulturkreisen erinnern wir uns freilich: dass zum Aufbruch des Individuums in die Moderne die Gewissensemanzipation gehörte. Übertritte, das hat ein Kongress der Humboldt-Universität („Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit“) vorgeführt, gab es zwischen „Indifferenz und Radikalität“ schon im 16./17. Jahrhundert; nicht nur motiviert durch Heirat, Ortswechsel, Karriere. Zum Beispiel die Wege des Pater Maurus aus St. Gallen, der wegen einer Frau Ärger bekam, in Zürich Asyl erbat, den reformierten Glauben annahm und als Politikum das eidgenössische Konfessionsgefüge strapazierte. Hatte er sein Kloster im Mai 1681 aus Angst vor Strafe, aus Überzeugung verlassen? Zuletzt kehrte der Wanderer ins Katholische zurück: da die Reformierten ihn schlecht behandelt hätten. Als gewissenlos galt er jeweils der Kirche, die er gerade hinter sich ließ.

Heute entpuppt sich das Menschenrecht Religionsfreiheit als Problem für den pluralistischen Kontinent. Kommt das vatikanische Verbot weiblicher Priester bald vor die Straßburger Diskriminierungswächter? Wenn Eidgenossen gegen Minarette votieren, Europas Gerichtshof das Schulkreuz als „passives Symbol“ zulässt, Frankreich aber Burkas coram publico verbietet, muss das Freiheitsideal neu justiert werden. Selbst die katholische Seite, deren Lexikon für Theologie und Kirche 1963 zugab, wer für sich die wahre Religion reklamiere, betrachte Religionsfreiheit als „Gelegenheit zu Abfall und Irrlehre“, hat in dem Thema, seit ihrem Konzilstext „Dignitas humanae“ (1965), Glaubenssubstanz entdeckt. Den Konzilstheologen gelang seinerzeit der dialektische Salto, die Freiheit des zur Wahrheitssuche verpflichteten Menschen als gottesebenbildlichen Wesenszug zu proklamieren, dabei aber zu bekräftigen: „Die wahre Religion, so glauben wir, ist verwirklicht in der katholischen, apostolischen Kirche, die von Jesus dem Herrn den Auftrag erhalten hat, sie unter allen Menschen zu verbreiten.“ Gott selbst nehme „Rücksicht auf die Würde der von ihm geschaffenen menschlichen Person, die nach eigener Entscheidung in Freiheit leben soll“. Was heißt hier aber: leben? Nicht das Bekenntnis, das Bekennen kritisiert der Staatsrechtler Karl Albrecht Schachtschneider in „Grenzen der Religionsfreiheit am Beispiel des Islam“ (2010.) Er geißelt die Karlsruher Kopftuch-Genehmigung (der Gläubige dürfe sein „gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens ausrichten“) als „ideologische Überhöhung des Religiösen“, die in dieser „handlungsleitenden“ Konsequenz den Staat zerstöre.

Die „1. Konferenz zum Berliner Dialog der Religionen“ soll Ende Mai stattfinden. Eine Glaubens-Privatisierung à la Schachtschneider dürfte der Senat kaum befürworten, aber die dogmatische Entkernung dieser Begegnung wird er, als neutraler Makler, gutheißen. Umso mehr könnten sich Religionsvertreter fragen, ob Händchenhalten und die Ehre, unterm segnenden Auge der Ordnungsmacht im Rathaus gewesen zu sein, ausreicht für ein Spree-Konzil. Was bleibt ohne Credo übrig von ihrer Identität? Wie viel Sendungs-Drive wäre nötig, um auf „den anderen“ zuzugehen? Während Theoretiker von Gleichberechtigung in Augenhöhe reden, weiß die Lebenserfahrung, dass es symmetrische Beziehungen nicht gibt. Leben ist asymmetrisch; der eine ist (mal) überlegen, (mal) unterlegen. Wo Dialogpioniere sich am christlichen Gottesbild orientierten, böte sich ihnen als Modell für eine Begegnung ungleicher Partner die schiefe Ebene an: Der himmelhoch Überlegene macht sich klein, um „den anderen“ nicht plattzumachen; ihm die Freiheit der Antwort zu lassen. Ist das Größenwahn, ein paternalistischer Trick, defaitistisches Einknicken? Mystiker würden sagen: Dass so vielleicht Wahrheit „sanft und zugleich stark“ durch Liebe siegt. Liturgiker wüssten: Dass der Gründonnerstag-Job des Messias als Fußwäscher irgendwie in die Richtung geht. Exegeten dürften ergänzen: Dass der Evangelist Johannes mit Fußwaschung und Kreuzigung dasselbe Mysterium bezeichnet. Historienmaler hätten, wie auch immer, wieder eine Menge zu tun.

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