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Meinung: Gretchen bei den Briten

Die EU-Verfassung kann gelingen – oder an Premierminister Blair scheitern

Man möchte nicht als Kandidat für das Europaparlament durch die Lande ziehen in diesen Tagen. Erstens steckt man auf Wahlveranstaltungen meistens Prügel ein, sofern man das Regierungslager vertritt. Von „Europa“ wollen die Leute dann meistens nicht so gern etwas hören, umso lieber möchten sie dafür über Kürzungen und die Praxisgebühr reden. Für die kann „Europa“ aber nur bedingt etwas.

Und zweitens hat der arme Europaparlamentarier in spe auch kein rechtes europäisches Vorzeigeprojekt, mit dem sich Stimmung für das Straßburger Parlament machen ließe. Die soeben vollzogene EU-Erweiterung, so historisch sinnvoll sie auch ist, löst zunächst einmal Ängste aus. War da nicht noch so ein europäisches Großprojekt? Stimmt, die europäische Verfassung. In Deutschland ist die geplante EU-Verfassung immerhin schon ein Thema, weil darüber gestritten wird, ob man über sie abstimmen soll oder nicht. Aber immer der Reihe nach.

Bevor nämlich die Verfassung ein Fall für das Volk würde, müsste sie erst einmal von den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in knapp vier Wochen beschlossen werden. Am gestrigen Montag haben die EU-Außenminister in Brüssel noch einmal versucht, die Gräben zu überwinden. Im vergangenen Dezember war in Brüssel ein Gipfel daran gescheitert, dass sich die 25 EU-Mitglieder nicht darüber einigen konnten, nach welchem Abstimmungssystem sie denn ab dem Ende dieses Jahrzehnts Mehrheitsentscheidungen herbeiführen sollen.

Im Kern soll die umstrittene Verfassung das liefern, was Europa nach der gelungenen Erweiterung mehr denn je fehlt: Einen Rahmen, der die EU auch dann zu Entscheidungen befähigt, wenn ihre 25 Mitglieder gerade einmal keinen gemeinsamen Nenner finden.

Bundeskanzler Gerhard Schröder und Frankreichs Präsident Jacques Chirac machen sich dabei für einen Entscheidungsmechanismus stark, der auch die große Bevölkerungszahl in ihren beiden Ländern berücksichtigt. „Doppelte Mehrheit“ heißt das Zauberwort. Premier Tony Blair kämpft dagegen dafür, dass Großbritannien auch in Zukunft in entscheidenden Bereichen nicht überstimmt werden kann: in der Außen- und Verteidigungspolitik, bei einer möglichen Vereinheitlichung der Steuern oder in Rechtsfragen. Beim gescheiterten Verfassungsgipfel im Dezember standen noch Polen und Spanien mit dem schwarzen Peter da – vor allem der damalige Warschauer Regierungschef Leszek Miller verhinderte einen Durchbruch. Scheitert nun das ganze Verfassungsprojekt an Blair – ausgerechnet an jenem britischen Premier, der mit einem höheren Einsatz für Europa kämpft als sämtliche seiner Vorgänger? Schließlich will er mit dem geplanten Verfassungsreferendum den Briten auch die Gretchenfrage stellen: Wollt ihr rein nach Europa – oder raus?

Ähnlichen Mut sollte Blair nun auch in den kommenden Wochen bei den Beratungen mit seinen Amtskollegen über die EU-Verfassung beweisen. Sollte der Amtsinhaber in der Downing Street aber darauf beharren, dass London auch künftig in der EU ein Voranschreiten der anderen Partner blockieren kann, dann sollten die 25 EU-Mitglieder das Verfassungsprojekt am besten fürs Erste ganz beerdigen. Denn eine Verfassung, die nur das jetzige Durcheinander in der EU festschreibt, verdient ihren Namen nicht.

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