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Meinung: Groß-Palästina

Das Königreich Jordanien wird es nicht mehr lange geben Von Michael Wolffsohn

Nahost brennt. Bald könnte es noch mehr brennen, denn der Thron der seit Jahrzehnten wohltuend gemäßigten Haschemitendynastie Jordaniens wackelt heftig. Der Wahlsieg der Hamas-Fundamentalisten im Gazastreifen und Westjordanland könnte auf das Königreich leicht, schnell und heftig überschwappen: Die Palästinensergebiete, besonders das Westjordanland, liegen in unmittelbarer Nähe des ostjordanischen Haschemitenstaates, dessen Bevölkerung zu rund 80 Prozent aus Palästinensern besteht. Die sind verwandtschaftlich, kommunikativ, historisch und politisch eng mit allen anderen Palästinensern verbunden.

Vor wenigen Tagen hat ein israelischer General diese Tatsachen in einem „geschlossenen Kreis“ ausgesprochen, der so „geschlossen“ war, dass seine Analyse nach außen gelangte. Prompt sorgte sie für Verstimmungen zwischen Amman und Jerusalem. Eilig und artig, weil zu Recht besorgt, distanzierten sich Israels Verteidigungsminister und Generalstabschef von den Äußerungen jenes Generals. Sie entsprächen nicht „der Politik Israels“. Natürlich nicht, denn Israel und das Königreich Jordanien haben seit jeher eine Art transjordanischer Allianz gegen die Palästinenser gebildet. Diese betrachten nämlich Israel plus Jordanien (sowie den Gazastreifen und das Westjordanland) als das historische „Palästina“. Das ist historisch ebenso richtig wie falsch. (So kompliziert ist Nahost.) Politisch wäre die „Korrektur“ der Geschichte eine menschliche und politische Katastrophe, weil sie die Zerstörung Israels und Jordaniens bewirken müsste.

Eine Minderheit in Israel (zu der früher auch Ariel Scharon gehörte) wollte die „historischen Rechte der Palästinenser“ auf das Ostjordanland auf andere Weise nutzen: Dort aufgrund der historischen und demografischen Vorgaben einen Staat „Palästina“ gründen, um – sozusagen im Austausch – „die Palästinenser“ zu befriedigen, zu befrieden und das gesamte Westjordanland behalten zu können.

Aus diesem territorialpolitischen Wunschtraum mancher Israelis wurde inzwischen (auch für Scharon im Amt des Ministerpräsidenten) ein demografischer Albtraum, denn die Eingliederung des Westjordanlandes würde auf einen Schlag den jüdischen Staat in einen arabisch-jüdischen Halb- und-Halb-Staat Israel verwandeln. Das Interesse Israels, Jordaniens, „des Westens“ am Fortbestand des Haschemitenstaates scheint offenkundig, die (wertfreie) Analyse des kritisierten Generals ist dennoch richtig. Ja, der Thron Abdallahs in Amman wackelt. Seine Dynastie wurde den Palästinensern aufgepropft und wenn der arabisch-islamische Nahe Osten weiter demokratisiert wird, ist es nur eine Frage der Zeit, dass Jordanien den gesellschaftlichen Parametern folgend „Palästina“ würde. Ein solcher Wandel muss – anders als fast allgemein befürchtet – nicht zwangsläufig mit Gewalt verbunden sein, nicht einmal mit der Vertreibung des Königs, der ein politisch weitgehend einflussloser König-Präsident werden könnte.

Ob allerdings die vehement antipalästinensische Beduinenarmee des Königs eine friedlich-parlamentarischen Weg zuließe, bleibt offen. Wenn nicht, wären Bürgerkrieg und Dauerterror die Folge. So oder so, die Palästinensierung Jordaniens ist langfristig unvermeidlich, und das Unvermeidliche steuert man besser selbst.

Die Palästinensierung Jordaniens muss für den Konflikt mit Israel nicht nachteilig sein. Die Palästinenser hätten einen (außer dem Gazastreifen und Teilen des Westjordanlandes) größeren Staat mit mehr Land, mehr Menschen, mehr Möglichkeiten und mehr Verantwortung. Sie hätten deshalb durch die Fortsetzung, gar Eskalation des Konflikts weit mehr zu verlieren als unter den heutigen Gegebenheiten. Die „Fortsetzung des bewaffneten Kampfes“ wäre selbst aus Sicht der Palästinenser widersinnig, die Abwendung von der Gewalt, die heute zurecht von Hamas verlangt wird, die logische Konsequenz.

Ein solches „Palästina“ hätte auch eine eigene Armee. Also doch eine Eskalationsgefahr? Nein, denn jede konventionelle arabische Armee kann Israels Streitkraft wirksamer kontrollieren als Guerilla, Häuserkampf, Terror.

Der Autor lehrt an der Bundeswehrhochschule in München.

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