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Meinung: Gute, alte BRD

Die Illusion des Westens: Einheit ohne Veränderung / Von Robert Leicht

Schon die übliche Fragestellung ist einseitig: Was blieb nach der Wiedervereinigung von der DDR? Nun ist eben 1990 die DDR der Bundesrepublik beigetreten und nicht umgekehrt die BRD der Deutschen Demokratischen Republik. Doch das macht die Frage nicht gegenstandslos: Was blieb dabei übrig von der „alten“, der westdeutschen Bundesrepublik?

Die Antwort fällt paradox aus, nämlich: Alles und nichts! Zunächst zum ersten Teil des Paradoxes, wonach im Westen alles blieb, wie es war: Das westdeutsche Grundgesetz wurde mit einigen Retuschen die gesamtdeutsche Verfassung – und das war auch gut so, obwohl sich mancher westdeutsche Träumer damals die Hoffnung machte, man könne die beitretende DDR dazu benutzen, Änderungen an unserem Verfassungssystem durchzusetzen, für die man sonst nie eine Mehrheit finden würde: die untergehende DDR sozusagen als Steigbügelhalter westdeutscher Illusionen. Die größte dieser kleinen Grundgesetzänderungen betraf noch nicht einmal die neuen Länder, sondern die Machtstellung der Ministerpräsidenten der „gebrauchten“ Länder; die nämlich nutzen den Wegfall des alten „Einigungs“-Artikels 23, um sich an gleicher Stelle, unter gleicher Nummer – und im Gegenzug zum Mitmachen beim Solidarpakt – erhebliche Mitspracherechte in der Europapolitik des Bundes herauszuschlagen. Die Verfassung blieb also für uns Westdeutsche dieselbe, das westdeutsche Rechts- und Verwaltungssystem, die Wirtschaftsform, das Sozialwesen – alles wurde einfach gesamtdeutsch. Und wir taten so, als würde sich dadurch für uns nichts ändern. Wir ließen uns, wenn wir denn so töricht waren, von unseren Politikern einreden, dies alles könne man aus der Portokasse bezahlen. Weil aber die Portokasse die Einigungskosten – alles im Grunde vertagte Kriegsfolgelasten seit 1945 ff.. – nicht hergeben wollte, zapften wir die Zukunft unserer Kinder und Kindeskinder an, wichen also in eine enorme Steigerung der Staatsverschuldung aus. Weil sich eben für uns möglichst nichts ändern sollte im Zuge der größtdenkbaren Wende der Gegenwart, an der vielen Westdeutschen – siehe Lafontaine und Co. – auch gar nicht so viel gelegen war.

Dabei hatte sich in Wirklichkeit auch für uns alles geändert. Ich erinnere mich, so viel Selbstzitat darf vielleicht sein, dass ich in der späten Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 – bewegt von den vielen Stunden vor den Fernsehbildern und hinweggetragen vom schweren Rotwein – beim Abschalten behauptete: „Die Bundesrepublik zu regieren, unter strenger Aufsicht der Siegermächte, das war noch vergleichsweise einfach – das konnte Helmut Kohl, das könnte Oskar Lafontaine, das könnte zur Not auch ich selber. Aber jetzt fängt ein anderes, ein viel schwierigeres Spiel an.“ Dabei war die schnelle Wiedervereinigung damals noch nicht abzusehen. Und in der Tat: Der Fall von Mauer und Stacheldraht war ja nur ein Ausschnitt aus dem größeren Zusammenbruch der Block-Konfrontation, ohne welchen die beschleunigte Öffnung der Welt, Globalisierung genannt, nicht vonstatten gegangen wäre. Dem Völkerfrühling folgten die Völkerkriege, beginnend auf dem Balkan. Die Deutschen – und damit eben auch die alten Bundesrepublikaner – stürzten von einem Paradox ins nächste: Gewissermaßen über Nacht waren sie nur noch von verbündeten Nationen umgeben – sie saßen aber deshalb nicht inmitten einer idyllischen Friedenswiese, sondern wurden hinausgestoßen in die Weltpolitik, mussten plötzlich den Unterschied zwischen Hindelang und Hindukusch erfassen.

Die Bürger der DDR wollten die Einheit und erlebten die Veränderungen im Alltag und am eigenen Leibe. Die Westdeutschen wollten die Einheit, wenn überhaupt, nur ohne Veränderung. Jetzt müssen sie nachsitzen.

Der Autor ist politischer Korrespondent der „Zeit“.

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