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Meinung: Halten wir den Weltrekord in Familienfeindlichkeit?

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) fordert eine noch längere Lebensarbeitszeit Wir sollen also nach dem Willen der OECD länger arbeiten, um unsere eigene und die Renten Kinderloser zu sichern. Als ob wir Eltern durch die Sorge um unseren Nachwuchs nicht schon mehr als genug für die Sicherung künftiger Renten getan hätten.

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) fordert eine noch längere Lebensarbeitszeit

Wir sollen also nach dem Willen der OECD länger arbeiten, um unsere eigene und die Renten Kinderloser zu sichern. Als ob wir Eltern durch die Sorge um unseren Nachwuchs nicht schon mehr als genug für die Sicherung künftiger Renten getan hätten. Nicht im Traum denken die Autoren der neuesten Studie daran, die prekäre finanzielle Situation von vielen Familien der komfortablen Lage Kinderloser anzugleichen. Nicht im Traum fällt der OECD ein, man könnte etwa durch ein Erziehungseinkommen jungen Eltern Mut zu zwei oder mehr Kindern machen. Eine Verbesserung des Familieneinkommens durch Abgabengerechtigkeit oder eine Sicherung des Arbeitsplatzes für junge Eltern wird überhaupt nicht in Erwägung gezogen. Im Gegenteil! Der Keil, den die OECD in die deutsche Gesellschaft treibt, spaltet diese immer massiver. Unsere Elterninitiative spricht sich explizit gegen eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit von Eltern aus. Sie will bei der Berechnung der Rentenansprüche von Eltern deren Lebensleistung durch Kindererziehung deutlich berücksichtigt wissen.

Bärbel Fischer, Leutkirch

Sehr geehrte Frau Fischer,

und was sagen Sie denen, die ungewollt kinderlos bleiben? Was sagen Sie der Regierung, die Ihnen die Irrsinnssumme von 194 Milliarden Euro vorrechnet, die für Familien ausgegeben werden? Sagen Sie Ersteren, dass Biologie und Ökonomie sauber auseinanderzuhalten und Letzterer, dass deren Zahlen reine Propaganda, politische Lügen sind und Deutschland in international standardisierten Vergleichen – siehe Siebter Familienbericht! – in puncto Familienlastenausgleich nicht vorn, sondern hinten liegt? Dass der Staat den Familien in Wahrheit die Sau vom Hof klaut – und in Gönnerpose drei Koteletts zurückbringt? Dann haben Sie nicht nur recht, sondern Sie haben den Erfinder des geltenden Rentensystems und das Bundesverfassungsgericht auf Ihrer Seite! Eltern werden im Steuer- und Sozialsystem himmelschreiend benachteiligt: Arbeitseinkommen sind Markteinkommen. Honoriert wird die einzelne Arbeitskraft. Löhne sind deshalb völlig blind für die Frage, wie viele Mäuler von ihnen zu stopfen sind. In der „primären“ Einkommensverteilung des Marktes sind Eltern deshalb per se benachteiligt. Statt diesen Nachteil über die Steuer- und Sozialsysteme „sekundär“ auszugleichen, passiert das Gegenteil, denn die Sozialbeiträge werden vom Bruttolohn erhoben, Kinder dabei nicht berücksichtigt. Bei den Steuern wiederum stammt der Löwenanteil der Einnahmen des Fiskus aus Verbrauchsteuern, die Familien überproportional bluten lassen. Bezogen auf die Gesamteinnahmen der öffentlichen Hände stammen weit über 70 Prozent aus den familienfeindlichen Sozialabgaben und den Verbrauchssteuern. Das ist ein Weltrekord an Familienfeindlichkeit und erklärt, warum der scheinbar riesige Familienlastenausgleich gar nicht funktionieren kann: Es ist, als wolle man Wasser mit einem Sieb umverteilen. In der beständigen Ausweitung der Verbrauchssteuerlasten und der Sozialbeiträge findet man auch die Hauptursache des scheinbaren Rätsels der doppelten Kinderarmut: Dass der Anteil der Kinder im Sozialleistungsbezug seit 1965 auf das Sechzehnfache gestiegen ist (von jedem 75. auf jedes 5. Kind), obwohl die Geburtenzahl sich seitdem von 1.35 Millionen auf 650 000 bis heute glatt halbiert hat. Dass Eltern durch das Rentensystem verfassungswidrig um die Früchte ihrer Erziehungsleistungen geprellt werden, hat das Bundesverfassungsgericht schon 1992 im „Trümmerfrauenurteil“ festgestellt und 2001 für die Pflegeversicherung sogar ausdrücklich gefordert, die Kinderziehung als den Geldbeiträgen gleichwertig auf der Beitragsseite zu berücksichtigen. Unter Fachleuten ist unstreitig, dass für die Krankenversicherung nichts anderes gelten kann. Passiert ist aber fast nichts. Schon 1955 hatte der Erfinder unseres „Generationenvertrags“, der Ökonom Wilfried Schreiber, darauf hingewiesen, dass die Sozialisierung der Altenlasten „parasitäre“ Verteilungsverhältnisse zugunsten Kinderloser zur Folge habe, wenn man nicht die Kinderlasten in gleicher Weise spiegelbildlich zur Altersrente durch eine „Kindheits- und Jugendrente“ sozialisiere, für welche Kinderlose die höchsten Beiträge entrichten müssten; er war übrigens selbst kinderlos. Dass Eltern nach dem Willen der OECD nun genauso wie Kinderlose für die „demografische Entwicklung“ durch ein höheres Renteneintrittsalter mithaften sollen, ist deshalb ungerecht, weil die kollektive Alterung zu rund zwei Dritteln auf der Kinderlosigkeit beruht; die längere Lebenserwartung ist an dieser Entwicklung nur zu einem Drittel beteiligt. Eltern werden so für kinderlose Lebensentwürfe mitverantwortlich gemacht. Diese Fragen wird die Justiz entscheiden müssen. Drei Musterverfahren sind bereits beim Bundessozialgericht (BSG). Das hat allerdings am 5. Juli 2006 in einem anderen Fall sinngemäß geurteilt, Kindererziehung sei für das Rentensystem schädlich, denn Eltern könnten sonst mehr arbeiten und mehr Beiträge zahlen; wolle man Kindererziehung den Geldbeiträgen gleichstellen, müsse auch der ehrenamtliche Kassierer eines Sportvereins dafür Rente kriegen. Kein Jux! „Nie haben Dichter die Natur so verändert, wie Juristen die Wirklichkeit!“ (Giraudoux). Das BSG versuchte, Flüsse juristisch bergauf zu lenken, obwohl in der Wirklichkeit alles den Bach runtergeht. Man darf gespannt sein, wie das Bundesverfassungsgericht auf die Verhöhnung seiner Judikatur seit 1992 reagiert. Eltern, die sich nicht massenhaft wehren, werden aber auch in Karlsruhe womöglich nicht mehr ernst genommen.

— Jürgen Borchert, Vorsitzender Richter Landessozialgericht Hessen, seit Jahrzehnten Politikberater zu Fragen der Sozial- und Familienpolitik

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