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Boston soll stark bleiben.

© AFP

Hatice Akyün über die jüngsten Anschläge in den USA: Warum man Boston lieben muss

Boston ist eine wunderschöne Ostküstenstadt - bunt, international, kulturell. Dieser "American Dream" wurde nun angegriffen. Das ist bedrückend. Bedrückend sind aber auch einige Reaktionen auf den Terror.

Der Bombenanschlag in Boston hat mich durchgeschüttelt. Dort habe ich einmal gelebt. Boston ist das genaue Gegenteil aller Vorurteile, die es über die USA gibt. Eine wunderschöne Ostküstenstadt, mit allem, was eine moderne Metropole braucht. Sie hat Universitäten, Theater, Orchester, einen hervorragenden Nahverkehr, eine funktionierende medizinische Versorgung, eine bürgernahe Verwaltung und vergleichsweise wenig Armut.

Diese Stadt muss man lieben, vor allem, weil sie international, weil sie bunt ist. Harvard, MIT, Boston University und die University of Massachusetts saugen den Grips der ganzen Welt auf. Viele ausländische Studenten erhalten ein Stipendium. Oft beenden sie ihr Studium in Boston mit einem US-Pass in der Tasche und einer Fahne vor der Haustür.

Der Name „The Commonwealth of Massachusetts“, das Gemeinwesen von Massachusetts, ist Programm und wird von konservativen Amerikanern als „socialist state“ bezeichnet. Warum? Dort zahlen sie mindestens so viel Steuern wie in Deutschland, und die Wohlhabenden geben ihr Vermögen in Stiftungen, weil andernfalls eine Erbschaftsteuer greift, die den Namen auch verdient.

Die Region lebt in Wohlstand, weil es so etwas wie Geborgenheit gibt, die es einem erlaubt, sich komplett einer Aufgabe und nicht nur der Sicherung seiner Existenz zu widmen. Dieser „American Dream“ wurde nun angegriffen. Selbstlos standen die Menschen füreinander ein. In den Nachrichten versuchte ich, auf die Menschen zu achten, die in dem Chaos halfen – und nicht nach den blutigen Bildern zu gieren. Das ließ die Welt für mich ein wenig besser erscheinen.

Zwei Dinge bedrücken mich seit den Anschlägen: Wie kann es sein, dass Medien, auch deutsche, mit den Fotos der Toten auf eine hohe Auflage schielen? Wurde da nicht die Privatsphäre der Angehörigen für die Befriedigung der eigenen Sensationslust verletzt? Und hat man nicht jede Seriosität über Bord geworfen? Es war eine 24-stündige Echtzeit-Berichterstattung, die bisweilen hysterische Züge trug. Es wurde getwittert, gesendet, gefacebooked. Dabei sein war alles – um jeden Preis. Boston wurde für einen Tag stillgelegt, um Personal frei zu bekommen, das man für die Suche nach dem Täter brauchte. Gefunden wurde der 19-jährige Tatverdächtige erst, als ein Anwohner dessen Blutspuren an seinem Boot entdeckte.

Noch etwas, auch wenn ich nerven sollte: Wenn unser Teil der Welt angegriffen wird, sind wir betroffen, weil wir Teil dieser Welt sind. Was ist aber, wenn in Afghanistan eine Hochzeitsgesellschaft bombardiert wird? Was, wenn in Bagdad durch Selbstmordattentäter Menschen sterben? Was, wenn Terror in Teilen der Welt wütet, die wir nicht kennen? Dann ist unsere Betroffenheit zurückhaltend, unsere Unterstützung findet nicht statt, unsere Anstrengung, dort zu helfen, beschränkt sich maximal auf eine Spende.

Unsere Wertegemeinschaft scheint auf einem Auge blind zu sein. Vielleicht ist das der Grund, warum nicht alle in uns die Guten sehen wollen. Oder wie mein Vater sagen würde: „Mal bulunur can bulunmaz“ – Besitz findet sich irgendwo, Leben nicht.

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