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Meinung: Heimat oder Zuflucht?

Staatsvertrag: Juden lassen sich auf Deutschland ein

Das deutsch-jüdische Verhältnis ist in eine Übergangsphase eingetreten. Das hatten schon die inzwischen verstorbenen Zentralratsvorsitzenden Heinz Galinski und Ignatz Bubis gespürt. Ersterer stimmte der Wiedervereinigung zu und bekam dafür von Altkanzler Kohl die Zusicherung, dass Deutschland jüdische Flüchtlinge aus Osteuropa aufnehmen werde, um den Gemeinden hier eine Zukunftsperspektive zu eröffnen. Und Bubis trieb die Angst um, dass es bald keine Überlebenden der KZ mehr geben würde, die die Erinnerung an das Grauen wachhalten könnten. Wenn der Zentralrat jetzt also einen Staatsvertrag mit der Bundesregierung schließt, bedeutet das zweierlei: Es ist ein Zeichen, dass Deutschland für viele Juden eine verlässliche Heimat geworden ist. Und es zeigt, dass der Zentralrat die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft hier zu Lande offensiv gestalten will.

Diese bejahende, auf Dauer angelegte Bindung an die deutsche Gesellschaft kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Juden in Deutschland und in ganz Europa eine Beklemmung und eine so schon lange nicht mehr empfundene Unsicherheit erfasst hat. Überall in Europa nehmen antisemitische Übergriffe zu. Und überall wächst unter Juden das Bewusstsein, dass die eigene Sicherheit bedroht ist, weil Israel bedroht ist.

Das erscheint zunächst als Paradox: Warum sollten Juden sich außerhalb Israels unsicher fühlen, wenn in Israel Bomben hochgehen? Weil, so die direkte Ableitung, Juden und jüdische Einrichtungen weltweit – siehe Mombasa – wieder ins Visier muslimischer Terroristen geraten. Eine Vielzahl der Anschläge und Übergriffe in Europa geht ja, etwa in Frankreich, auf das Konto von Muslimen. Die indirekte Ableitung ist komplizierter: Weil es wie bei kommunizierenden Röhren eine Verbindung gibt zwischen der Lage Israels und dem Wohlbefinden vieler Juden in der Welt und in Europa. Auf dem alten Kontinent ist die Erinnerung noch frisch an das Versagen der Gesellschaft im Zweiten Weltkrieg – nicht nur der deutschen. Und so gibt es nicht allein in Deutschland die Angst, dass sich die erreichte Toleranz gegenüber Juden irgendwann wieder verlieren könnte. Deswegen ist Israel so wichtig: Als möglicher Anker, wenn die Welt wieder verrückt spielen sollte.

Die mehr als zwei Jahre, die die terroristische Intifada jetzt andauert, hat vielen Juden vor Augen geführt, wie zerbrechlich diese letzte Zuflucht, wie prekär die Zukunft des jüdischen Staates ist. Während die meisten Europäer Mitleid mit den Palästinensern empfinden, die dem israelischen Militär so hoffnungslos unterlegen sind, ist die jüdische Perspektive eine andere: Die tödliche, unmenschliche Entschlossenheit der Selbstmordattentäter nährt die Furcht, dass das von arabischen Staaten umgebene Israel den Konflikt mit den hunderten von Millionen Muslimen irgendwann verlieren könnte. Dass die europäische Öffentlichkeit diesen Konflikt so anders wahrnimmt, frustriert zusätzlich. Zumal das Gefühl weit verbreitet ist, dass die Grenze zwischen legitimer Kritik und antisemitischen Tönen allmählich verwischt. Und so sehen sich viele Juden in Europa genötigt, vehementer als früher Partei für Israel zu ergreifen – selbst wenn sie mit Ariel Scharon wenig gemeinsam haben.

Auf die Ängste der jüdischen Minderheit in Europa einzugehen heißt nicht, auf Kritik an Israel zu verzichten. Es bedeutet aber anzuerkennen, dass die Existenz Israels einen Nerv der jüdischen Gemeinschaft berührt. Dass diese Empfindlichkeit ihre historischen Ursachen in Europa hat – wer wüsste das besser als die Deutschen. Diese Sensibilität wird bleiben – auch mit Staatsvertrag.

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