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Helmut Schmidt (SPD) war nach seiner Kanzlerschaft Mitherausgeber der "Zeit".

© dpa

Helmut Schmidt: So war das mit ihm

Unser Redakteur Malte Lehming war persönlicher Referent von Helmut Schmidt bei der "Zeit". Zum 90. Geburtstag des Altkanzlers im Jahr 2008 gratulierte er ihm mit diesem Text.

Malte Lehming hat diesen Text im Jahr 2008 zum 90. Geburtstag von Helmut Schmidt geschrieben. Sie können ihn hier noch einmal nachlesen:

Für wen haben Sie gearbeitet? Für Helmut Schmidt? Na, das war sicher nicht ganz leicht, oder?“ Es ist ein Frühjahrstag im Gänsehautjahr 1990. Deutsche Turbulenzen. Auf den Montagsdemonstrationen in Leipzig wird längst nicht mehr „Wir sind das Volk“ gerufen, sondern „Deutschland, einig Vaterland“. Bei der ersten und letzten freien Wahl zur Volkskammer der DDR gewinnt die „Allianz für Deutschland“. Lothar de Maizière löst Hans Modrow ab. In Bonn beginnen die Zwei-plus-vier-Gespräche. Der Zug zur Einheit dampft und rollt.

Bei der „Zeit“ in Hamburg kommt an diesem Tag die Führungsspitze zusammen. Gerd Bucerius, Hilde von Lang, Gräfin Dönhoff, Theo Sommer, Robert Leicht und andere. Helmut Schmidt sagt: „Komm Se mal mit.“ Ein „bitte“ in solchen Sätzen von ihm klänge fehl am Platz. Ich komme mit, weiß aber nicht, warum.

Theo Sommer nimmt gerade seinen Fünf-Uhr-Whiskey, da beginnt die Runde. Was tun, wenn die Einheit kommt, mit der „Zeit“? Der Bedarf am freien Wort in der ehemaligen DDR muss doch riesig sein. Aber Drückerkolonnen wie bei der Konkurrenz – das ist nicht unser Stil. Nein, wir gehen rüber, stellen uns vor, machen einen Werbefilm über die „Zeit“, der Schmidt muss reden, wir stellen uns der Diskussion, die Säle werden bestimmt voll. Gute Idee.

Eine Deutschlandkarte wird ausgerollt. Acht Universitätsstädte – „das ist unsere Klientel“ – werden ausgewählt, von Rostock und Greifswald im Norden über Halle, Magdeburg und Ostberlin bis nach Dresden, Leipzig und Jena. In jeder Stadt soll Schmidt reden, die „Zeit“ sich präsentieren, für sich werben, aufklären und dem Publikum Rede und Antwort stehen. Und wer organisiert das? „Mein Büro“, sagt Schmidt. In diesem Augenblick wusste ich, warum er mich mitgenommen hatte.

Sechs Monate ohne Kompass folgen. Wer vermietet jetzt jene Säle, die früher in SED-Hand waren? Darf plakatiert werden, wer erlaubt das? Ist auf die örtlichen Lautsprecheranlagen Verlass? Soll jeder eingelassen werden? Was machen wir, wenn zu wenige oder zu viele kommen? Von Transport- und Kommunikationsproblemen ganz zu schweigen.

Das Bedeutsamste aber war, dass Schmidt seinem Büro fast blind vertraute. Kosten, Reisen, Neueinstellungen: „Machen Se mal ruhig.“ Länger, als er es tat, kann ein Vorgesetzter die Zügel kaum lassen. Ich habe Schmidt nie anders erlebt: Wenn er das Gefühl hatte, dass alles funktionierte, mischte er sich nicht ein. Und so waren die Freiheiten, die er gewährte, stets der größte Ansporn. Sich dieser Freiheiten als würdig zu erweisen, war das Ziel hinter jedem Ziel.

Was ihn statt der Planungsdetails interessierte, waren Informationen von vor Ort. Wie ist die Stimmung? Was beschäftigt die Menschen? Worauf hoffen sie? Ja, im Zwiegespräch kann Schmidt einen löchern, ist neu- und wiss begierig, will Einschätzungen und Urteile hören. Nur wenn Publikum da ist, zeigt er meist seine andere, die bekanntere Seite des Rhetors.

Die Säle zwischen Greifswald und Jena wurden wirklich voll. Anschließend strömten die Menschen zu Schmidt, umringten ihn, steckten ihm oder seinen Leibwächtern Zettel zu, manchmal war es bekritzeltes Zuckerwürfel papier. Später dann, im Auto, leer te er seine Taschen: „Jeder kriegt eine Antwort.“ So geschah es. Geantwortet wurde immer. „Das haben die Menschen verdient.“

Freiheiten gewähren, vertrauen, wissbegierig bleiben, verbindlich sein. „Für wen haben Sie gearbeitet? Für Helmut Schmidt? Na, das war sicher nicht ganz leicht, oder?“ Ob leicht oder nicht, spielt keine Rolle. Es hat geprägt, fürs Leben.

Kurzer Nachtrag: In diesen Tagen werde ich gelegentlich gefragt, warum Schmidt heute der „coolste Kerl“ Deutschlands, eine „Ikone der Deutschen“ (Spiegel), so beliebt und populär wie kein anderer sei. Vor wenigen Wochen fragte ich ihn das selbst. „Das liegt an meinen weißen Haaren“, antwortete er. „Die Leute glauben, wer weiße Haare hat, muss auch weise sein.“

Dabei ist er heute, wie er immer war, und er sagt Sachen, wie er sie immer sagte. „Das Jammern über Armut in Deutschland muss endlich aufhören.“ – „Natürlich sollen Studenten Studiengebühren bezahlen.“ – „Fernsehen und Internet erziehen zur Oberflächlichkeit.“ – „Die Agenda 2010 erforderte Mut.“ – „Atomenergie ist vorerst unverzichtbar.“ Vielleicht also hat nicht er sich geändert, sondern das Land. Langsam entdecken die Deutschen den Wert eines eigenen, unabhängigen Urteils. Und den Wert dessen, was man im Englischen „Common Sense“ nennt, einen ausgeprägten Realitätssinn.

Der Autor war von 1989 bis 1991 Persönlicher Referent von Helmut Schmidt bei der „Zeit“. © „Die Zeit“

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