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Würde er heute zur Wahl stehen, er könnte auf eine überwältigende Mehrheit hoffen: Altkanzler Helmut Schmidt gilt als einer der großen Europa-Visionäre.

© dpa

Helmut Schmidts Rede: Deutschland muss sich auf mehr Europa einlassen

Helmut Schmidt zeigt auf dem SPD-Parteitag, was die Regierung Merkel in der Krise so schmerzlich vermissen lässt: die Voraussicht eines echten Staatsmannes.

Der alte Mann und das Mehr. Der alte Weise vom Berg der Erkenntnis. Der Mann, der Deutschland das Denken lehrt. Der, der Logik kann, der Karl Popper kennt, der Marc Aurel verinnerlicht hat. Einer mit politischen Begriffen. Einer wie die großen alten Griechen. Helmut Schmidt.

Nun hat er auf dem Parteitag der Sozialdemokraten gesprochen, und es ist nicht zu viel gesagt, dass diese Rede sein Vermächtnis ist. Mit 93 Jahren wird er das dann nicht noch einmal tun. Sie haben ihm zugejubelt, und so rundet sich auch ein Lebensbogen. Als Kanzler schied er mit wenigen Stimmen, die seinen Kurs auf einem Parteitag stützten. Heute bekäme er die Mehrheit der SPD-Stimmen, und er bekäme die Zweidrittelmehrheit im Volk. In einer Wahl.

Wer die Bedeutung Schmidts ermessen will, der wird ihm vielleicht sogar ein Kompliment machen, wenn er ihn den Deng Xiaoping Deutschlands nennt – aber die demokratische Ausgabe. Helmut Schmidt steht in einer Reihe mit den bedeutenden Staatsmännern aller Zeiten. Er hat sich eingeschrieben ins Buch der Geschichte, und das mit nicht einmal zwei Amtszeiten als Bundeskanzler. Und doch ist es eben das, was bleibt: Er hat die Sache der res publica weiter betrieben, als Journalist, als Mahner auf internationaler Bühne, als Ratgeber.

Wie Schmidt seine Rede hielt, war es die Rede zur Lage der Nation, der europäischen Integration, die so lange schmerzlich vermisst wurde. Zutiefst getragen von den Begriffen Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, hat sie die Notwendigkeit des gemeinschaftlichen Handelns in und für Europa, für die europäischen Deutschen hergeleitet. Plötzlich steht dem Zuhörer vor Augen, was das für ein Jahrhundert gewesen ist, und wofür wir Deutsche nicht nur bloß Dank abzustatten haben, Dank in Sonntagsreden, sondern wofür wir zu arbeiten haben mit dem Ethos der Verantwortung, die uns geschenkt worden ist von den Zeitläufen.

Europa! Aus dem Munde Schmidts klingt das nicht wie eine Zumutung, auch nicht wie eine Verheißung, sondern wie ein großes Regierungsprogramm. Lehren zu ziehen aus der Geschichte ist vornehmste Pflicht eines Staatenlenkers. Von diesem Standpunkt aus stetig voranzuschreiten, mit Maßstäben, an denen das eigene Handeln zu messen ist, macht aus einem gewählten Regierungschef einen Staatsmann. Unbezwingbar ist Schmidt, wenn er logisch wird. Die Veränderung der Wirklichkeit beginnt mit der Betrachtung der Fakten. Und die sind, dass Europa klein geworden ist im weltweiten Vergleich, auf allen Ebenen, unter allen Umständen; dass es andererseits seine relative Größe nur wird wahren können, wenn sich alle seine Staaten auf Gedeih miteinander verbinden. Alles andere führt ins Verderben. Jawohl, ins Verderben. Denn dass Nationalismus nicht tot ist, zeigt sich auch in Deutschland. Rede ihm niemand das Wort, fordert Schmidt. Zu Recht. Wer es tut, disqualifiziert sich selbst. Besonders fürs Regieren.

Ja, Europa. Die Geschichte spricht dafür, die Zahlen, die der deutschen Prosperität nicht zuletzt. Ein Geschenk. Es ist aber gerade darum, dass wir zum Teilen angehalten sind. Nach nur sechs Jahrzehnten sind wir Deutsche in eine historische Lage versetzt, Großartiges leisten zu können: In Freiheit Gerechtigkeit gegenüber jedermann walten zu lassen, mit entschiedener Solidarität. Heute. Es kommt auf uns an. Die Stunde der Bewährung. Helmut Schmidt hat eine Stunde darüber gesprochen, über das Wie und Wofür. Gott, wenn er doch jetzt regieren könnte.

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