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Meinung: Höhenangst am Funkturm

Pascale Hugues, Le Point

Welches ist das symbolische Wahrzeichen Europas? Die Italiener, die Engländer, die Spanier, die Amerikaner, die Japaner – alle sind einer Meinung. Weder die Akropolis noch Big Ben, weder die Alhambra noch der Mont Saint Michel, weder der schiefe Turm von Pisa noch das Schloss von Versailles, weder der Trafalgar Square noch die NelsonSäule. Und ohne den Berlinern auf den Schlips treten zu wollen: auch nicht das Brandenburger Tor. Vergessen Sie Kolosseum, Arc de Triomphe und Escorial, Buckingham Palace und Londoner Tower, Louvre und Trevi- Brunnen. Allein für die Japaner kämpft der Vatikan mit um Platz eins, und nur die Amerikaner haben die Berliner Mauer mit im Blick.

Auf ein Wahrzeichen aber können sich alle einigen: den Eiffelturm. Bevor ich selbst ins Ausland ging, ließ mich dieses metallgewordene Klischee kalt. Wenn man in Paris lebt, legt man sich nicht mit kreischenden Horden von Australiern in Baseballkappen an, und man verachtet die Japaner, die stundenlang zwischen den Beinen dieser Stahlgiraffe Schlange stehen, um dann im Fahrstuhl ihren fadenförmigen Hals entlangzugleiten.

Als das Wetter diese Woche endlich klarer wurde, bekam ich Lust, Berlin im Panoramablick zu genießen. Doch der Telespargel auf dem Alex ist zurzeit geschlossen. Und für eine Elsässerin kommt es nicht in Frage, sich der Siegessäule und den 1870 vom Feind gestohlenen goldenen Kanonenläufen dort zu nähern. Weil ich auch keine Lust hatte, die Trümmer des Teufelsbergs zu erklimmen, erinnerte ich mich plötzlich an den Funkturm, der seinen grazilen Kopf über den Dächern der Stadt erhebt. Der Funkturm ist so etwas wie der kleine Bruder des Eiffelturms. Mit seinen 150 Metern und 610 Treppenstufen ist das Bauwerk von Heinrich Strausser natürlich nur eine Miniaturausgabe des Kolosses von Gustave Eiffel, der mit 324 Metern und 1665 Treppenstufen protzt. Aber immerhin.

Nachmittags ist man am Funkturm unter Berlinern. Keine Warteschlange, keine Japaner mit an den Bauchnabel genähten Nikons, keine Schlüsselanhänger- und Hot-Dog-Verkäufer. Nur eine Kassiererin mit herbem Charme, die in ihrem Wärterhäuschen über den Eingang wacht. Ich scheine die Einzige zu sein, die es wagt, sich diesem Cerberus mit violett gepuderten Augenlidern zu nähern. Mit fleischigen rosa Lippen brüllt sie Befehle, die sich als feuchter Belag auf der Fensterscheibe ihres Schalterhäuschens niederschlagen. Sie raubt mir den letzten Mut. Mir, die schon im Glasfahrstuhl des KaDeWe zitronengelb wird und es kaum wagt, auf eine Leiter zu klettern. Ich beschließe, von meinem heroischen Vorhaben Abstand zu nehmen. Lieber nicht auf einer im lauen Frühlingswind schaukelnden Aussichtsplattform den Seiltänzer zu mimen. Mir wird schon schwarz vor Augen, wenn ich an die Fahrstuhlkabine denke, die mit vier Metern pro Sekunde wie eine Rakete in den Berliner Himmel zischt. Die Aussicht auf einen 30-Kilometer-Rundum-Blick ist mir jetzt auch Schnuppe.

Ich bleibe am Boden, in der anheimelnden Gesellschaft von Betonkästen mit Stiefmütterchen – und eines solidarischen Klubs der an Höhenangst Leidenden. „Je älter man wird, desto schlimmer wird es“, versichert mir eine alte Dame. „Der Funkturm ist älter als Oma“, behauptet ihre Enkelin. Sie irrt. Zusammen rechnen wir nach: 1929 minus 1921. Dem Funkturm hat Oma acht Jahre voraus.

Meine Söhne kommen zurück von ihrer Kletterpartie. Sie sind enttäuscht. Dieses Berliner Plagiat verdient nichts als Verachtung. „Unsrer ist größer!“ Sie wollen das Original. Das aus Paris. Ihr eigenes. Diese spontane Wiederaneignung ihrer französischen Identitätshälfte rührt mich. Um sie zu trösten, schenke ich ihnen einen 20 Zentimeter großen Bonsai-Eiffelturm, den ich letzten Herbst in einem Moment der Schwäche einem Souvenirhändler auf der Iéna-Brücke abgekauft habe. „Wenn du mich weiter ärgerst“, schreit der Kleine, während er den Großen über den Parkplatz jagt, „hau ick dir den Eiffelturm auf die Bürne!“ Als Waffe scheint dieses Wahrzeichen doppelt so gut zu taugen wie als Zement der europäischen Identität.

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