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Meinung: Holland im Blindflug

Von Rolf Brockschmidt Mit der Beschaulichkeit ist es vorbei. Pim Fortuyn hat den Niederlanden die öffentliche politische Debatte aufgezwungen.

Von Rolf Brockschmidt

Mit der Beschaulichkeit ist es vorbei. Pim Fortuyn hat den Niederlanden die öffentliche politische Debatte aufgezwungen. In einem Land, in dem der Konsens heilig ist und in dem viele Menschen der Politik den Rücken gekehrt hatten, weil sie nur noch als langweilige Veranstaltung einer abgehobenen Kaste verstanden wurde, sind plötzlich die Wahlen so spannend wie nie zuvor. Dabei schneiden die Niederlande im europäischen Vergleich wirtschaftlich gut ab. Im Alltag aber, im Kiez in Rotterdam, im Krankenhaus oder auf den Autobahnen zeigen sich Versäumnisse einer Politik, die den Kontakt zu den Bürgern verloren hat.

In diese Lücke stieß Pim Fortuyn, der „demokratische Nationalist auf Stilettos, nicht in Holzschuhen“, wie ihn ein Journalist bezeichnet hatte. Er wollte Ministerpräsident werden, allerdings ohne Minister und Staatssekretäre seiner eigenen Partei. Die hielt er für unfähig. Die Schüsse vom 6. Mai haben dem ein jähes Ende gesetzt. Die Wahl findet nun in einer sehr emotionalisierten Atmosphäre statt. Was bedeutet es, wenn eine Partei mit einem toten Spitzenkandidaten in die Wahl geht? Die Leserbriefseiten der Zeitungen lassen erkennen, dass es Mitleidswähler gibt, ja selbst Gegner Fortuyns werden ihn jetzt wählen, aber nicht wenige Anhänger sehen in einer Partei ohne Pim keinen Sinn. Dass die Sozialdemokraten mit ihrem ungeliebten Spitzenkandidaten Ad Melkert einem historischen Debakel entgegen gehen, scheint festzustehen. Von den 150 Sitzen im Parlament prophezeien ihnen die letzten Meinungsumfragen nur noch 25 von vorher 45. Auch die Rechtsliberalen, die durch ihre Regierungsbeteiligung in die Mitte gerückt sind, werden von 38 Sitzen 13 einbüßen. Die Linksliberalen sollen statt 14 Sitzen nur noch acht erhalten. Die Regierungskoalition würde von 97 Sitzen auf 58 abstürzen.

Die Christdemokraten können aus diesem Debakel kein Kapital schlagen, sie kämen auf 31 Sitze. Gegen den Konsens der Mitte schärfen sich die Ränder: Die linken Parteien werden leicht dazugewinnen und die LPF würde mit 28 Sitzen triumphieren. Damit wäre sie zweitstärkste Partei.

Und was kommt nach den Wahlen? Die etablierten Parteien haben zwei Möglichkeiten. Eine lässt sich im belgischen Antwerpen besichtigen. Dort bildeten die demokratischen Parteien einen „cordon sanitaire“ um den Vlaams Blok. Auf Holland übertragen hieße das, dass am Ende doch wieder die etablierten Parteien auf der Regierungsbank säßen. Allerdings darf man bezweifeln, dass eine Regierungsbildung unter Umgehung der Rechtspopulisten dem Wählervotum gerecht würde, die innerhalb weniger Monate einen Nobody zum Retter des Vaterlands gekürt hatten. Die Fortsetzung einer wie auch immer gearteten Konsens-Regierung – würde das nicht gerade die Kluft zwischen denen da oben und denen da unten vertiefen?

Kann man andererseits in einem Klima, in dem die Anwälte Fortuyns führende Politiker der Regierungsparteien wegen des Aufrufs zum Hass anzeigen, die LPF in eine Koalition einbinden und dann in den Mühlen des Den Haager Alltags entzaubern und so rasch zu Neuwahlen kommen? Das Ende der Schonzeit ist erreicht, die Niederländer werden Farbe bekennen, ihre vornehme Zurückhaltung aufgeben müssen. Die Kontroverse ist nach Holland zurückgekehrt.

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