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Meinung: Ich bin die letzte Mohikanerin

Wozu brauchen wir noch Musikkritik, wenn sowieso alles Kultur ist? Weil das professionelle Nachdenken über Beethoven & Co. nicht nur den Geist und die Sinne bereichert, sondern die Welt verbessert. Gedanken zum Abschied.

Nicht Joachim Kaiser, der viel geliebte und bewunderte Münchner Kritikerpapst, ist der „letzte Mohikaner“, ich bin es, definitiv. Ich bin – zusammen mit ein paar ebenfalls sanft ergrauenden Mitstreitern – die letzte Mohikanerin, und dass es diesen Indianerstamm nie gegeben hat (außer in James Fenimore Coopers Roman), macht die Sache nicht besser. Vor ein paar Jahren schrieb Kaiser seine Autobiografie und nannte sie tatsächlich „Ich bin der letzte Mohikaner“: Ein prall-kluges, anrührendes Buch über ein reiches Leben, nicht frei von Eitelkeiten, wie es sich für einen Großkritiker gehört. Seitenlange Rezensionen über den späten Beethoven finden sich ebenso darin wie die Anekdote, dass er, J. K., wenn er im Konzert, im Theater oder in der Oper saß und ausnahmsweise einmal nicht darüber zu schreiben hatte, gleich in der ersten Pause zur Klofrau rannte, um wenigstens ihr zu sagen, wie er’s fand. Ausdrucksnotdurft könnte man das nennen.

Den „letzten Mohikaner“ habe ich Joachim Kaiser nie ganz verziehen. Immerhin gibt es doch (noch) uns, mich, meine Generation, die in den 90er Jahren wenn nicht unter seinen Fittichen, so doch unter seinen Augen ins Kritikerfach hineinwuchs. Wenn er, nach Cooper, Chingachgook ist – wer sind dann wir? Uncas, der Sohn, der auf tragische Weise vor dem Vater stirbt? Oder die bösen europäischen Kolonialisten, die ihre hegemonialen Gelüste auf dem Rücken der Indianer austragen, ohne das geringste Gespür für die Werte, die sie dabei für immer zerstören?

Dass es um die Zukunft insbesondere der Musikkritik in der heutigen Medienlandschaft so schlecht bestellt zu sein scheint wie nie, ist eine olle Kamelle, die man im Grunde niemandem mehr zumuten möchte. Was soll das ewige selbstreferenzielle Gejammer? Was nützen die vielen Artikel in eigener Sache? Wen unter den Lesern kümmert es schon, dass ein außergewöhnlicher Abend mit Beethoven-Streichquartetten dem Feuilleton keine 250 Zeilen mehr wert ist, wie zu Kaisers seligen Zeiten, sondern bestenfalls ein Fünftel davon? Wer forderte ernsthaft die anderen vier Fünftel ein (abgesehen davon, dass 50 erhellende Zeilen über den Meister nicht weniger Kompetenz erfordern, sondern eher mehr)? Ein paar Versprengte, sehr gelegentlich.

Unser Kulturbegriff ist längst über alle Ufer getreten, mit guten und weniger guten Gründen und zweifellos zugunsten eines breiteren, bunteren, offeneren und pluralistischeren gesellschaftlichen Bewusstseins. Der Preis dafür aber ist nicht klein. Die Angst der Kulturschaffenden vor ihrem Verschwinden in der Bedeutungslosigkeit hat in den vergangenen 20 Jahren dazu geführt, dass schlichtweg alles als Kultur gilt. Der Druck aus Wirtschaft und Politik, die Macht der neuen Medien und nicht zuletzt die hasenherzigen Feuilletons selbst wussten diese Entwicklung kräftig voranzutreiben. Es mag seinen Reiz haben, die Euro-Krise mit einer Mentalitätsgeschichte der beteiligten Völker zu kontern, ein Phänomen wie Knut (den Eisbären) tiefenpsychologisch zu beleuchten oder die Kabbelei um die Frauenquote zur Debatte zu erheben. Wer all das rezipiert, wird zweifellos das Gefühl haben, ein Kulturmensch zu sein, schließlich steht es im Feuilleton, läuft über die Kulturkanäle in Funk & Fernsehen und trägt sich auf einschlägigen Plattformen des Internets zu.

Nur um die Hervorbringungen der Kultur selbst geht es allüberall immer weniger, um die Kunst und ihre irrlichternden – Knut, die Frauen und den Euro zwangsläufig inhalierenden – Diskurse. Weil diese Diskurse den Menschen mehr abverlangen als die üblich gewordene schnelle Nummer, den raschen Mausklick, die Googlebarkeit ferner und fernster Welten: etwas wie Muße zum Beispiel, Muße zur Auseinandersetzung; etwas wie den Mut zum eigenständigen Urteil. Kunst ist gestaltete Wirklichkeit, und wer sich dazu verhalten möchte, sollte nicht nur an der Wirklichkeit interessiert sein, sondern auch an deren Gestalt und Form. Diese Form durchsichtig oder, im Falle der Musik, durchhörbar zu machen, sie auf ihre Qualität und Tragfähigkeit hin zu prüfen, um zum Wesentlichen vorzudringen, darin liegt eine der Kernkompetenzen des Feuilletonisten.

Am Ende wird sicher nur umgekehrt ein Schuh daraus: Kritiken müssen so welthaltig, leidenschaftlich beseelt und verführerisch sein, dass sich die alte Frage nach dem „politischen“ Feuilleton auf der einen und dem „Rezensions“-Feuilleton auf der anderen Seite nicht mehr stellt. Wichtig seien Leute, „die sich nicht nur in ihrem Fach auskennen, sondern auch in der Lage sind, die Leser zu begeistern“, sagte unlängst Alex Ross, 44, der preisgekrönte Musikkritiker des „New Yorker“.

Genau dieser Funke springt offenbar immer seltener über. Im Anspruchsranking der ästhetischen Diskurse steht die klassische Musik weit oben – beim journalistischen Nachwuchs hingegen rangiert sie weit unten. Ist es die Komplexität des doppelten Übersetzungsvorgangs, der viele abschreckt? Das mühselig zu erwerbende handwerkliche Rüstzeug, das schlichte Notenlesenkönnenmüssen, die generelle Verkümmerung unserer Ohren? Oder wirkt der gesamtgesellschaftliche Bedeutungsverlust der „Hochkultur“ so einschüchternd? Aus Noten auf dem Papier entsteht Klang, und aus Klängen soll wiederum auf dem Papier eine Sprache werden, die zündet: Ist das so unattraktiv, nur weil es sich um Kompositionen handelt, die die gängige Popularkonsumeinheit von drei oder vier Minuten überschreiten und älter sind als gestern oder vorgestern?

In meinen zwölf Jahren beim Tagesspiegel sind mir ganze zwei oder drei Praktikanten begegnet, die einen fundierten Klassikbezug mitbrachten. Der eine marschierte am dritten Tag zur Chefredaktion und wollte die Feuilleton-Leitung übernehmen (wovon man dann doch Abstand nahm), der zweite brachte den Mund nicht auf und konnte nicht schreiben. Und alle anderen können Pop oder etwas mit Film oder ein bisschen Theater und Literatur. Und das ist durchaus repräsentativ. An den Universitäten und Kunsthochschulen bietet sich ein ähnliches Bild. Noch fühlt man sich dort bemüßigt, den Kritikeraufbaustudiengängen alle Jubeljahre eine Vorlesung, ein Blockseminar oder einen Workshop über Musik anzubieten. Als Gastdozentin übernimmt man solche Aufgaben zunächst gern, auch weil man es weder glauben kann noch will, dass sich unter den Studenten so gar keiner findet, der von der Materie etwas versteht. Dann begreift man: Es ist so. Und es bleibt so. Und es macht gar keinen Sinn, den vielen Blinden etwas von der Farbe zu erzählen.

Mit einiger Gelassenheit könnte ich mich nun auf den Mohikanerinnen-Standpunkt zurückziehen, der freilich zynisch ist und nichts anderes sagt als: Nach mir die Sintflut. Ich für mich und meine Generation hatte und habe beruflich alle Möglichkeiten, fast alle jedenfalls – was kümmern mich die anderen, die Jungen, ihre Platznöte und Existenzängste? Ich kann schreiben, was ich will, fast jedenfalls, ich kann reisen, den ästhetischen Diskurs mitbestimmen, dem Musikmarkt auf die Finger klopfen, hoch inspirierende Künstlerpersönlichkeiten treffen, ich kann bloggen, wenn ich will, und Radio machen, Buchautorin sein, Moderatorin und Gewährsfrau auf 1001 Podien (und immer wieder Zielscheibe für zornige Leser). Ich besitze in der Branche eine Autorität. Diese habe ich mir mit den Jahren erschrieben, einfach weil mich die Erfahrung, in der Musik so unmittelbar wie in keinem anderen Medium der Wahrheit zu begegnen, dem Menschsein und der Liebe, und diese Wahrheit auch noch formulieren zu dürfen, nicht mehr losgelassen hat.

Ich habe diese Position allerdings auch inne, weil man mich diese Erfahrung hat machen lassen. Es gab Menschen, Kollegen, die mich gesehen, gelenkt und gelesen haben und später redigiert und kritisiert, oft genug streng. Am Anfang tat vieles weh, wie auch die ersten bösen Leserbriefe den Weltuntergang bedeuteten. Dann habe ich verstanden: Wer austeilt, muss auch einstecken können. Und wer Urteile fällt, wer über künstlerische Leistungen richtet, muss dies in absoluter Ehrlichkeit vor sich selbst tun, sonst geht er der Sache verlustig, sonst wird’s unglaubwürdig. Die gespaltene Zunge taugt nicht zum Werkzeug.

Was also kümmern mich die, die nach mir kommen (oder eben nicht mehr)? Sie kümmern mich sehr wohl. Weil das Sintflut-Denken grundsätzlich eher männlich konnotiert ist. Weil Frauen immer wollen, dass es weitergeht. Und weil es mich frustrieren würde, die Letzte meiner Zunft zu sein und sehenden Auges einem aussterbenden Gewerbe nachzugehen. Denn natürlich bin ich der Überzeugung, dass das professionelle Nachdenken über Musik nicht nur ein hochwertiges, die Sinne bereicherndes Vergnügen darstellt, sondern die Welt verbessert. Warum sonst sollte ich es tun?

Diese Überzeugung teile ich offenbar mit der Universität Dortmund, die seit 2010 Musikjournalisten im Vollstudium ausbildet. Diese Woche fanden die „Eignungsprüfungen“ zum nächsten Wintersemester statt, auf zehn bis 15 Studienplätze hoffen derzeit 25 Kandidatinnen und Kandidaten. Die Anforderungen sind irrwitzig hoch, und genau das ist ein weiteres Symptom für die Krise. Nachdem der Beruf jahrzehntelang hauptsächlich Liebhabern und Zufallstreffern vorbehalten gewesen ist, werden jetzt musikalische „Kommunikationsexperten“ gezüchtet, wohl wissend, dass es für sie keine festen Verträge mehr geben wird und Freelancer von der Hand in den Mund kaum leben können. Ist das nicht paradox – und viel zu spät? Von den vier gestandenen Musikkritikern, die im Laufe des vergangenen Jahres gekündigt haben (etwa um die Seite zu wechseln und zum Theater zu gehen, was ja auch ein Symptom ist), wurde genau eine Stelle adäquat nachbesetzt.

Die Dortmunder Bewerber müssen: anspruchsvolle theoretische Prüfungen in Gehörbildung und Harmonielehre absolvieren, Wagners „Rheingold“ von Debussys „Prélude à l’après-midi d’un faune“ unterscheiden können (die Liste des zu erhörenden Repertoires gibt es vorab, man kann also üben), drei Stücke auf einem beliebigen Instrument vorspielen (Schwierigkeitsgrad III bei „Jugend musiziert“), ein Lied vom Blatt singen und sich zu Fragen der musikalischen Interpretation und des „aktuellen Musiklebens“ äußern.

Hand aufs Herz: Ich würde mit Pauken und Trompeten durch diese Prüfung rasseln (mit Ausnahme wohl der Punkte zwei, vier und fünf), und bestimmt merkt man es meinen Texten seit Jahren an, dass ich mich mit Stufe III auf der Geige ad hoc gewaltig schwertun würde und mir die Analyse des verkürzten Dominantseptnonenakkords in Moll seit jeher eine Pein war. Das Ganze erinnert mich an mein Praktikum in der Abteilung E-Musik beim Bayerischen Rundfunk Mitte der 90er Jahre, als ich von einem altgedienten Redakteur, der kriegshalber kein Abitur hatte machen können, nach meinem Promotionsvorhaben gefragt wurde. Wer in Dortmund einen B. A. oder M. A. erwirbt, sei befähigt, heißt es, „in allen Medien über musikalische Inhalte und Ausdrucksformen kompetent, verständlich und kritisch zu berichten“. Außerdem (wenn das nicht klappt) böten der PR-Bereich, das Veranstaltungswesen oder Education-Projekte diverse Möglichkeiten.

Professionalität hat noch niemandem geschadet, und natürlich richten die Dortmunder ihr Augenmerk zu Recht auf die Schnittstelle zwischen fachlicher Kompetenz und journalistischer Eloquenz. Ließe sich der Musikkritikerschwund damit beheben, wäre immerhin der Beweis erbracht, dass die Qualität das Problem ist. Das glaube ich nicht, jedenfalls nicht in erster Linie. Denn die Realität sieht längst anders aus: Kritiken können so hochfliegend gelungen sein, wie sie wollen, ihr Klassik-Stigma werden sie nur los, wenn Verleger, Herausgeber und Chefredakteure sich zur Entkrampfung des von ihnen praktizierten Kulturbegriffs entschließen. Die Leserschaft ist ihnen darin übrigens um Längen voraus. Und die Jungen müssen schreiben, schreiben und schreiben, um sich selbst auszuforschen und eines Tages wahrgenommen oder gar entdeckt zu werden. Wie antwortete der britische Komponist Oliver Knussen kürzlich, als er gefragt wurde, wie er in so dummen, diskursarmen Zeiten wie diesen eigentlich überlebe? „Music is always important.“

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