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Leben am und im Computer.

© ddp

Ich habe verstanden: Die Welt durch die Brille des Nerds

Nerds sind nach landläufiger Meinung Menschen, die viel vor dem Computer sitzen und dicke schwarze Brillen tragen. Nerds schaffen all die Räume, in denen sich moderne Menschen heute bewegen - doch das Leben kennen sie nicht.

Der Schriftsteller Jonathan Franzen hat ein Buch geschrieben. Es heißt "Freiheit" und ist sehr dick und sehr gut. Franzen selber ist ein Star, seit seinem Roman "Korrekturen" vor neun Jahren, aber jetzt war er in London um sein neues Buch vorzustellen, viel Publikum, da kam ein Mann auf ihn zu und riss ihm seine Brille von der Nase und lief davon.

Einen Zettel hat er noch fallen gelassen. Darauf stand, dass er 100.000 Pfund Lösegeld für die Brille verlange. Das Geld bekam der Mann nicht, er sprang bei seiner Flucht in einen See, die Polizei holte ihn daraus. Jonathan Franzen soll sehr sauer gewesen sein. Als Brillenträger kann ich das verstehen: Schlagt uns, beißt uns - aber nehmt uns nicht die Brille weg!

Franzens Brille, so meine Schätzung, ist keine 100.000 Pfund wert, also gut 114.000 Euro. Vielleicht 150 Euro das Gestell, bei guten Gläsern ist man dann bei 600 Euro. Die Brille, die Franzen trägt, ist eine Hornbrille, schwarzes Gestell. Ein ähnliches Modell trägt Justin Timberlake in dem Film "The Social Network", in dem es um Facebook und dessen Gründer Mark Zuckerberg geht. Timberlake spielt den Napster-Erfinder Sean Parker, der seine Erfindung an eine große Firma verkaufte und dafür eine Menge Geld bekam. In dem Film wird aus der Hornbrille eine Nerdbrille, denn seit zwanzig Jahren müssen junge Männer, die viel vor dem Computer sitzen und das Leben nicht kennen, Nerds also, in Filmen dicke schwarze Brillen tragen, damit man sie sofort erkennt. Mittlerweile ist das alles furchtbar kompliziert, denn die Nerdbrille gilt in Berlin-Mitte jetzt als Ausdruck eines Hipstertums, das allerdings nach Lage der Dinge (Stand: Freitag, 8. Oktober 2010) längst überholt ist.

"The Social Network" ist ein Film von David Fincher - einem Mann, der nicht in der Lage ist, langweilige Filme zu drehen. Fincher führte bereits Regie bei "Sieben", "Fight Club", und "Der seltsame Fall des Benjamin Button" - die Hauptrolle spielte immer Brad Pitt, in "The Social Network" allerdings nicht, das würde auch keinen Sinn machen: es geht um den jungen Mann, der "Facebook" gründet und damit reich wird. Es geht um die Zurückweisungen, die er im Leben erfahren hat, weil er mit dem Computer besser umgehen kann als mit einem Mädchen oder einem Fußball. Es geht um Wahnsinn, Erfolg, Anerkennung, Respekt. Es geht um eine aus den Fugen geratene Welt, in der schüchterne, picklige Jungs Superstars sein können.

Der Film soll sehr gut sein, was an den Hauptdarstellern liegt und an dem Regisseur, vor allem aber an Aaron Sorkin, der das Drehbuch geschrieben hat und Dialoge liefert, von denen man zumindest bezweifeln kann, ob schüchterne, picklige Jungs sie in der wirklichen Welt führen könnten. Geistreich, voller Pointen, schnell und schlau sprechen die Jungs in "The Social Network", und das ist dann vielleicht der Beweis, dass Hollywood mit der Realität wenig zu tun hat. Aber welche Realität eigentlich?

Schon seit längerem wird der Typus des Nerds gefeiert als derjenige, der die Welt entwirft, in der wir leben. Der Nerd schuf Facebook, der Nerd schuf das Internet, der Nerd schuf all die Räume, in denen sich moderne Menschen heute bewegen. Vor kurzem saß ich in einem anderen Raum, in der Tram. Die Tram gehört zu der Welt, in der ich mich bewege und viele andere Menschen auch. Interessanterweise weiß die Mehrheit der Menschen, dass man sich in einer Tram entweder hinsetzt oder so hinstellt, dass ein Zusammenleben immer noch möglich scheint - das liegt an den Erfahrungswerten, an der Empathie und an der sozialen Intelligenz: Will einer zum Fahrkartenautomat, lässt man ihn durch. Einem älteren oder gebrechlichen Mitbürger überlässt man seinen Platz. Jemandem mit einem Kinderwagen hilft man hinein oder hinaus. Das sind so Abläufe, die kein Nerd programmiert hat - sie klappen trotzdem.

Am Dienstag saß ich in der Tram und ein paar Nerds stiegen ein, zwei Männer, eine Frau, dicke schwarze Brillen, Funktionskleidung, Laptoptaschen. Sie stellten sich so in die Tram, dass es kein Durchkommen mehr gab, es staute sich vor ihnen, es staute sich hinter ihnen. Die Nerds waren keine Rowdys, die wollten nicht provozieren - sie schienen einfach nicht zu wissen, wie man sich im öffentlichen Raum verhält. Was man tun muss, um das Miteinander aller etwas leichter zu gestalten. In diesem Bild in der Tram lag eine gewisse Tragik: Während man den virtuellen Raum im Griff hat, sich dort sicher und zielgerichtet bewegt, tapst man in der Realität orientierungslos durch die Gegend. Und für einen Moment dachte ich, dass die Nerds vielleicht ein wenig zu viel Macht haben.

Neben "The Social Network" lief gestern auch "The Road" an, die Verfilmung von Cormac McCarthys Roman "Die Straße". Die Welt ist ein von Gott verlassener Ort, alles ist zerstört, die wenigen Menschen, die überlebt haben, rauben, morden und sind zu Kannibalen geworden, und ein Mann geht mit seinem Sohn durch diese Welt ohne Liebe ohne Mitleid auf der Suche nach etwas, das es vielleicht niemals gab.

Das Buch ist übrigens eine Sensation, besser, gewaltiger als "Freiheit" von Jonathan Franzen. Ich habe bisher noch kein Foto von Cormac McCarthy gesehen, auf dem er eine Brille trägt.

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