zum Hauptinhalt
Enoch zu Guttenberg.

© dpad

Ich habe verstanden: Geht's auch weniger "total"?

Enoch zu Guttenberg, Karl-Theodors Vater, spricht von einer "Menschenjagd" auf seinen Sohn, von einem "Schlachtfest". Es wird schon arg dick aufgetragen, findet Matthias Kalle. Nichts empfinden die Menschen scheinbar mehr als "nur" schlimm, alles ist sofort eine "Katastrophe".

Am Dienstag wollte ich eigentlich nur Mittagessen gehen, aber selbst das wird in Berlin immer komplizierter. Ich ging aus dem Büro in der Dorotheenstraße in Mitte und bog ab in die Friedrichstraße. Da, an der Ecke, ist ein Autohaus, davor wechseln sich täglich bedürftige Menschen ab, um ihr Anliegen vorzutragen: Manchmal stehen da Frauen mit ihren kleinen Kindern und wollen "Help", manchmal sitzen dort Obdachlose in sich versunken - vor ihnen ein Becher und ein kleines Pappschild. Ein paar Meter weiter Richtung Bahnhof Friedrichstraße steht ein Verkäufer einer Obdachlosenzeitung, daneben entweder Menschen, die Frauen ansprechen, um sie zum Besuch eines Fitnessstudios zu überreden, oder die Malteser oder Menschen, die Clownsnasen haben. Was die wollen, weiß ich aber nicht.

Am Dienstag jedenfalls standen vor dem Autohaus mehrere junge Menschen von Büso. Die Jungen von Büso würden wohl sagen, dass es sich bei Büso um eine Partei handelt, andere nennen so etwas "Politsekte", mir fehlte bislang dazu jede Idee, jeder Begriff, weil mir Büso und die jungen Menschen egal waren. Dann bog ich um die Ecke. Büso hatte Plakate aufgestellt, deren Sinn, Zweck und Inhalt ich nicht verstand. Zügig wollte ich weitergehen, ich hatte ja Hunger, da sprach mich ein junger Mann an - er wollte wissen, ob er mich aus meinem "gedanklichen Konzentrationslager" befreien solle.

Für eine Sekunde blieb ich stehen. Fassungslos. Hatte ich das richtig gehört? Meinte da jemand, ich befände mich in einem "gedanklichen Konzentrationslager"? Konnte das wirklich gesagt worden sein? Hatte ich oder hatte dieser junge Mann komplett seinen Verstand verloren? Ich ging weiter, langsamer jetzt, denn tatsächlich dachte ich darüber nach, die Polizei zu rufen, eine Anzeige zu erstatten. Vielleicht aber sollte ich auch einfach zu dem jungen Mann gehen und ihn argumentativ erklären, dass man einen größeren Unfug, eine größere Unverschämtheit kaum einem Fremden auf der Straße zurufen könne.

Ich ging dann nicht zu dem jungen Mann und ich rief auch nicht die Polizei, denn vielleicht muss man so etwas auch einfach ertragen, vielleicht sollte man gerade bei so etwas die bürgerliche Lässigkeit nicht vermissen lassen, die den Unterschied macht zum Wutbürger, der sich mittlerweile über alles aufregt - möglicherweise aber nicht über das Richtige.

Dann, am Samstag, kam es zu einem verstörenden Auftritt, verstörend auch deshalb, weil man wenig darüber las, obwohl doch im Moment alles, wo der Name Guttenberg drin vorkommt, die Menschen interessiert. Am Samstag also ging Enoch zu Guttenberg, Karl-Theodors Vater, von seinem Schloss zum Marktplatz des Ortes Guttenberg. Dort hat er laut "Süddeutsche Zeitung" "eine Menge von Menschen gesehen, um die Mittagszeit sind es viermal mehr als der Ort Einwohner hat." Deshalb ging er zurück zum Schloss, schrieb was auf, kam zurück zum Marktplatz und redete zu den Menschen, die ihm zuriefen: "Herr Baron, Herr Baron!" Und dann sagt der Baron, dass ihm das "Geifern und der Jagdrausch" bestimmter Medien Angst mache. Er sagt, dass die "Häme und Selbstgerechtigkeit" mancher Journalisten die Gürtellinie so massiv unterschritten hätte, dass seine Familie es kaum mehr ertragen hätte. Dass, was die Medien über seinen Sohn geschrieben haben, nennt er "Schlachtfest". Und er sagt, er sagt es tatsächlich, dass er sich nicht habe vorstellen können, "dass so eine Menschenjagd" nach 1945 noch einmal möglich sei.

Uff. Wahrscheinlich wird ähnliches bald ein schwedischer Tourist auch sagen, wenn er von einem Westfalen, der seit 10 Jahren im Kreuzberger Wrangelkiez wohnt, böse angeschaut wird. Mir ist das alles langsam ein bisschen zu viel, zu dick - zu erregt, zu erhitzt. Es müsste doch auch eine Nummer kleiner gehen, weniger aufgeregt, weniger "total". Nichts in diesem Land empfinden die Menschen scheinbar mehr als "nur" schlimm, alles ist sofort eine "Katastrophe", in Berlin sollen Bahnmitarbeiter wegen des Lokführerstreiks mit Cola-Dosen beworfen worden sein - es kommt einem so vor, als befänden sich die Menschen in einem Dauererregungszustand, aus dem es kein Entkommen gibt, der sich eher nur noch verstärkt bei jeder Kleinigkeit, bei der man dafür oder dagegen sein kann. Manchen reicht sogar eine neue Benzinsorte, um ihre revolutionäres Aggressionspotential zur Entfaltung zu bringen.

Ach, dachte ich diese Woche, man müsste sie alle irgendwie aus ihrem gedanklichen Sportpalast befreien. Aber das dachte ich nur ganz kurz, denn ich wollte mich nicht aufregen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false