zum Hauptinhalt
Matthias Kalle.

© Privat

Ich habe verstanden: Nachrichten aus dem Herbstloch

Trotz Bruni-Baby und Gaddafi fühlt sich Matthias Kalle im Herbstloch. Er schaut sich einen sensationellen Fernsehfilm und eine überflüssige Talkshow an und plädiert für eine Frauenquote - der Männer wegen.

Offensichtlich scheint jede der vier Jahreszeichen ein Loch zu haben, allgemein bekannt allerdings ist nur das Sommerloch, und jeder weiß, das im so genannten Sommerloch manche Medien mit Meldungen aufwarten, deren Relevanz mindestens fragwürdig ist. Weil irgendwie so gar nichts passiert, wird auch über Kaimane in Baggerseen berichtet oder über die Forderung, man möge doch bitte Mallorca zu einem anständigen deutschen Bundesland machen – die Spanier könnten im Gegenzug ja Mecklenburg-Vorpommern bekommen.

Okay, von diesem Tausch war damals nicht die Rede, den habe ich jetzt erfunden, vielleicht weil mir langweilig ist, denn ich fühle mich gefangen im Herbstloch, denn obwohl Carla Bruni einem Kind das Leben schenkte und Gaddafi tot ist, lese ich im Moment hauptsächlich davon, wie grauenhaft voll die deutschen Universitäten jetzt wieder sind, zum Semesterstart, aber ist das tatsächlich eine Meldung? Deutsche Universitäten sind zum Semesterstart Mitte Oktober immer voll, und sie sind auch noch voll im November, im Dezember, tatsächlich auch im Wonnemonat Mai, aber darüber wird kaum berichtet, auch nicht von mir. Von mir wird es im Verlauf auch keine Bewertung dieses Zustandes geben – ich äußere mich nur am Schluss darüber, dass ja schon seit längerem weitaus mehr junge Frauen auf die Universitäten gehen als junge Männer.

Einige der Studenten werden mit Sicherheit auch Kurse im Kreativen Schreiben belegen – das ist im übrigen nicht verkehrt, ich glaube nicht an Talent, ich glaube, dass man Sachen lernen kann. Kreatives Schreiben ist an amerikanischen Unis ja ein ziemlich alter Hut, und eine goldene Regel des creative writings lautet: show, don’t tell. Zeigen, nicht erklären. Wie wichtig diese Regel tatsächlich ist, zeigte die ARD am Mittwochabend. Erklär ich kurz.

Mittwochabend zeigte der Sender den Fernsehfilm „Homevideo“, der vor kurzem bereits mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet wurde. Jetzt sagen Preise nicht unbedingt immer etwas über Qualität aus – in diesem Fall jedoch schon, denn „Homevideo“ muss man schlichtweg eine Sensation nennen. Es geht um einen 15-jährigen Jungen, verloren in der Jugend, in der Pubertät und im eigenen Körper, seine Eltern trennen sich gerade, er ist verliebt in ein Mädchen, zum ersten Mal. Er hat eine kleine Videokamera und filmt sich beim Onanieren. Die Mutter verleiht die Kamera an einen Freund des Jungen, der sieht das Video, und die Dinge nehmen ihren Lauf: die Mitschüler sehen es, es steht im Internet, das Mädchen, das er liebt, wendet sich ab, die Eltern sind hilflos, am Ende bringt sich der Junge um. Selten hat ein Fernsehfilm so viel Kraft, es gibt keine bessere Werbung für Fernsehgebühren. Nach 90 Minuten hat man so viel verstanden: wie Jugend funktioniert, wie Liebe funktioniert, wie Hass funktioniert. Und dann kam Anne Will.

Die Talkshow im Anschluss machte alles kaputt, denn dort wurde eben nicht gezeigt, es wurde erklärt, und das war mühsam und ärgerlich und half nicht beim Erkenntnisgewinn. Tatsächlich könnte der Eindruck entstehen, man halte den Fernsehzuschauer für zu dumm, als dass er sich nach einem Film Gedanken macht, Schlüsse zieht – so als würde er nicht verstehen, was er da gerade gesehen hat. Denn die Diskussion führte nicht weiter, sie führte zurück, man könnte fast behaupten, dass sie den Erkenntnisgewinn des Films zerstörte.

Natürlich gibt es auch Glücksfälle des Erklärens, zum Beispiel Ulrich Greiners Text in der aktuellen „Zeit“ über das Phänomen der Peinlichkeit, der Scham, des Fremdschämens. Wenn man den gelesen hat, dann war man nicht dümmer, sondern schlauer aus vorher und man denkt vor allem darüber nach, wie viel Contenance eigentlich das eigene Leben hat.

Aber wahrscheinlich haben diesen Text wieder nicht sieben Millionen Menschen gelesen – sieben Millionen schauen sich ja gerade im ZDF den Historienporno „Borgia“ an, aber warum sie das tun, bleibt mir dann auch wieder schleierhaft. Hat wahrscheinlich mit dem Herbstloch zu tun.

Abgesehen davon bin ich für die Einführung einer verbindlichen Frauenquote, allerdings nicht wegen den Frauen, sondern wegen der Männer. Die werden sich nämlich irgendwann freuen, dass sie dank der Quote noch ein paar gute Jobs bekommen – mehr junge Frauen an den Universitäten, bessere Zensuren in den naturwissenschaftlichen Fächern. Und vermutlich auch mehr Contenance. Männer können ja immer noch Papst werden.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false