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Unser Kolumnist Matthias Kalle.

© Privat

Ich habe verstanden: Sarrazin, Reich-Ranicki, Dostojewski

Immer freitags macht sich Matthias Kalle in seiner Kolumne "Ich habe verstanden" einen Reim auf die Woche. An Sarrazin kommt auch er nicht vorbei.

Ich habe das neue Buch von Thilo Sarrazin nicht gelesen. Das hat drei Gründe. Erstens kann ich es noch gar nicht lesen, es erscheint erst am Montag. Zweitens glaube ich, dass ich das Buch schon kenne, es gibt Vorabdrucke, seltsamerweise in der „Bild“ und im „Spiegel“, die habe ich gelesen, außerdem hat jeder, den ich kenne, schon eine Meinung zu dem Buch, das sie noch nicht gelesen haben, und die Meinungen der Menschen zu Thilo Sarrazins Buch kenne ich jetzt auch schon. Drittens habe ich wahrscheinlich gar keine Zeit, um das neue Buch von Thilo Sarrazin zu lesen. Ach ja, und ich habe keine Lust, das wäre dann der vierte Grund.

Das neue Buch von Thilo Sarrazin heißt „Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“. Es hat 464 Seiten. Das halte ich für sehr viel. Ich erinnere mich, dass Marcel Reich-Ranicki einmal gesagt hat, ein gutes Buch hat 200 Seiten, jedenfalls so ungefähr, und wahrscheinlich hat er Recht, man muss schon sehr gut schreiben können, damit das, was man schreibt, mehr als 200 Seiten trägt. Dostojewski hat das ja gekonnt, „Verbrechen und Strafe“ hat ziemlich viele Seiten, sogar in der Fischer-Taschenbuchausgabe, wo die Seiten sehr eng bedruckt sind. Sie sind aber auch sehr dünn, deshalb kann man dieses Buch fast überall mit hinnehmen.

Ich war diese Woche an der Nordsee, ich hatte „Verbrechen und Strafe“ immer in meiner Jackentasche, aber ich kam kaum dazu, darin zu lesen, dauernd unterhielten sich die Leute über das Sarrazin-Buch: am Strand, im Café, im Restaurant, im Supermarkt. Es waren viele ältere Mitbürger mit Dialekten aus, ich würde jetzt mal tippen, ehr süddeutschen Gegenden, die sich wohlwollend über das Buch unterhielten. Einige meinten, es sei mutig, mal die diese Dinge auszusprechen. Einige meinten, endlich sage mal einer was. Einige meinten, man dürfe ja in Deutschland nicht mehr die Wahrheit sagen.

Ich rief sofort in Berlin an und fragte nach, ob es in der Zwischenzeit einen Militärputsch gegeben habe, und jetzt das Sagen der Wahrheit unter Strafe gestellt sei. Nee, gab es nicht. Man versicherte mir, dass Deutschland immer noch eine Demokratie sei, in der die Meinungsfreiheit gilt. „Menschenrechte auch noch?“, fragte ich vorsichtshalber nach. Ja, Menschenrechte auch noch. Beruhigt legte ich auf.

Diese ganze Sache mit dem Thilo-Sarrazin-Buch hatte mich anscheinend doch mehr durcheinander gebracht, als ich anfangs gedacht hätte. Doch dann las ich am Donnerstag in der „Zeit“ (ein Interview mit Sarrazin, es war zwei Seiten lang geführt haben es Özlem Topcu und Bernd Ulrich, und nach dem ich es gelesen hatte, war der Spuk vorbei, danach hatte sich die Sache für mich erledigt.

Es ist ein großartiges Gespräch – zum einen ist es beispielhaft für ein journalistisches Interview, denn es beweist, dass es gut und richtig und wichtig ist, wenn man sich auf seinen Gesprächspartner zum einen akribisch vorbereitet, und zum anderen eine Meinung hat. Deshalb ist das Interview ein Streitgespräch, in dem es um alles geht, vor allem aber geht es darum, wie wir miteinander umgehen sollten.

Ich glaube, man muss das Buch von Thilo Sarrazin nicht lesen. Aber ich glaube, man muss dieses Interview lesen, um das Buch von Thilo Sarrazin zu verstehen. Online zu finden ist es übrigens auch hier.

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