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Meinung: „Ich kann Genies nicht ausstehen“

Günter Grass, 78, hat in seinem Leben alles erreicht, was man als Künstler und Mensch erträumen kann. Wenn im Herbst die Blätter des Lebensbaums sich bunt färben, müssen Meister in der Kunst und im Menschsein dafür sorgen, dass ihr Wissen weitergegeben wird – und zwar nicht nur in Form von Büchern.

Günter Grass, 78, hat in seinem Leben alles erreicht, was man als Künstler und Mensch erträumen kann. Wenn im Herbst die Blätter des Lebensbaums sich bunt färben, müssen Meister in der Kunst und im Menschsein dafür sorgen, dass ihr Wissen weitergegeben wird – und zwar nicht nur in Form von Büchern. So will der Literaturnobelpreisträger nun die legendäre Gruppe 47 wiederbeleben. Er wolle den „Stafettenstab“ des engagierten Schriftstellers an eine jüngere Generation weitergeben, sagte Grass der „Zeit“ in rüstig-sportiver Metaphorik. „Ich gab dir die fackel im sprunge / Wir hielten sie beide im lauf“, heißt es in einem berühmten Gedicht aus dem George-Kreis. Die „Goldene Kette“ der dichterischen Tradition darf nicht abreißen! Andererseits waren Homer, Vergil, Dante und Goethe – so engagiert sie auch waren – keine SPD-Mitglieder.

Aber um Vereinsmeierei geht es dem Autor der „Blechtrommel“ mit seiner Gruppe (Arbeitstitel „Lübeck 05“), die für den nächsten Montag zu einer konstituierenden, gleichwohl informellen Sitzung unter persönlicher Leitung von Guru Grass zusammengetrommelt wurde, gewiss nicht. Der Witz an der Gruppe 47 war ja gerade, dass sie keinen formellen Vereinsstatus hatte, keine Verfassung, dass Gründungsguru Hans Werner Richter persönlich mit Postkarten einlud und das Prozedere der Treffen so freundlich wie autoritär bestimmte. Dennoch ging es der Gruppe 47 um die Demokratisierung der Nachkriegsliteratur. Alleinherrschaft und Demokratie – im Literaturbetrieb scheint sich das nicht auszuschließen.

Für die Gründungsversammlung hat eine funkelnde Goldkette von Autoren zugesagt: Von Jung-Star Benjamin Lebert über Eva Menasse und Matthias Politycki bis zu Tilman Spengler. Grass lud somit Freunde wie Verächter ein: Vor wenigen Monaten veröffentlichte Matthias Politycki („Herr der Hörner“) noch in der „Zeit“ ein Manifest, das mit einer Grass-Entthronung anhebt: „Vorn, ganz vorn sind immer noch die großmäuligen Alten, die Deutungshoheiten mit und ohne Pfeife …“. Auch das ist Demokratie: die andere Wange hinhalten.

Interessant ist, dass die Gruppe 47 1967 an den erhitzten Debatten um die erste große Koalition zerbrach. Und nun ihre Nachfolgerin mit der zweiten ins Leben tritt. Guru Grass wird dafür zu sorgen wissen, dass wir – zumindest auf dem Gebiet der Literatur – 1968 nicht ein zweites Mal durchleiden müssen.

Marius Meller

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