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Meinung: Im Dunkel des Mitläufertums

„Wo sind eigentlich die Millionen Parteibücher geblieben?“ vom 27.

„Wo sind eigentlich die Millionen Parteibücher geblieben?“ vom 27. Mai

Gerade las ich Ihren ausgezeichneten Artikel, Herr Ide, der deswegen kompetent ist, weil Sie sich selber als einstigen jugendlichen Agitator outen (Jg. 1975, damals wohl noch bei den Thälmann-Pionieren, oder sogar schon in der FDJ?). Das ist eine konstruktive Diskussionsgrundlage. Und mit der darf aus meiner Sicht – mit freilich etwas Mut - jeder einmal öffentlich gestehen: „Ja, ich war damals auch feige gewesen!“, anstatt sich im Dunkel des Mitläufertums zu verdrücken. Und wer sich über solch ein freies Geständnis erhebt, macht sich selber zum unglaubwürdigen Pharisäer, schon weil wir alle einmal feige in unserem Leben waren. Ich auch! Bis heute rätsele ich daran, unter welchen Menschen ich in der DDR eigentlich am meisten gelitten habe (überzeugte SED-Leute oder Mitläufer?). Sie bringen ein paar konkrete Beispiele. Bis zu meiner Verhaftung am 6. Oktober 1973 bin ich in der DDR aus meiner heutigen Sicht geradezu in die Einsamkeit geführt worden. Ich hörte hinter meinem Rücken sagen: „Der Erler bringt uns alle noch ins Gefängnis.“ Ich machte nie einen Hehl aus meiner Einstellung zum DDR-Regime. Aufgrund meiner Lebensgeschichte war ich nie bei den Thälmann-Pionieren, nie in der FDJ, nahm an keiner Jugendweihe teil. Doch es war ausgerechnet ein damaliger SED-Parteisekretär, Werner Schichlein, der mir ein unglaublich mutiges Zeugnis für die Stasi ausgestellt hatte (ich bin zu vier Jahren verurteilt worden). Er flog daraufhin aus der Fachschule heraus. Mit ihm hatte ich mich in Marxismus/Leninismus oft bitter gestritten, doch er erkannte meine Meinung – auch als treuer ND-Leser – an. Auch das gibt es also. Die DDR-Geschichte schreibe ich heute in vielen Grauzonen und dabei können für mich nicht alle SED-Leute grundsätzlich nur „böse“ gewesen sein. Und ich hatte sogar u.a. noch einen netten Stasi-Vernehmer. Einmal, in einer abseitigen Ecke, sagte er plötzlich zu mir: „Sie tun mir leid!“ Schreiben Sie bitte weiter so, Herr Ide, damit wir etwas vorankommen!

Rolf-Joachim Erler, Pfarrer/Pastor,

Zürich, Schweiz

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