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Meinung: Im Land der Ahnungslosen

Die Ostdeutschen brauchen Aufklärung, für die DDR gab es die Vertreibung offiziell nicht

Seit einem Jahr kann man den Eindruck gewinnen, die Deutschen kommen zur historischen Besinnung, aber es falle ihnen schwer. In den ausführlichen Debatten um ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ verschränken sich dabei zwei Probleme.

Zum einen steht die Aussöhnung der Deutschen mit den Vertriebenen und damit mit der eigenen Geschichte noch aus. Es ist erstaunlich, aber noch jüngst beim Ökumenischen Kirchentag konnte man aus den Stimmen der Vertriebenen den Vorwurf heraushören, die Gesellschaft der Bundesrepublik sei ihnen etwas, das zur geistigen Eingliederung wesentlich sei, schuldig geblieben. Was die Vertriebenen (nicht ihre Verbände) erwarteten, war Mitgefühl, Empathie für ihr Schicksal. Bekommen haben sie den Lastenausgleich und die Aufmerksamkeit aller Parteien für ihr Wählerpotenzial.

Die Mehrheit der Gesellschaft indessen blieb gleichgültig gegenüber der Gruppe seltsamer Querulanten, die einen Verlust beklagten, der, wie viele meinten, niemanden sonst etwas anging. Man sperrte sich gegen die Einsicht und das Eingeständnis, dass die ostdeutsche Bevölkerung am Ende des Krieges haften musste für Versagen und Verbrechen, die alle Deutschen zu verantworten hatten. Ihr Los, das anderen erspart geblieben war, war gleichsam stellvertretendes Leid, und als solches wollten sie es anerkannt sehen. Seit die 68erGeneration die nationale Frage tabuisiert hatte, rückten in der öffentlichen Betrachtung die Opfer der Deutschen und die deutschen Opfer in ein Konkurrenzverhältnis. Wer Letztere auch nur erwähnte, wurde verdächtigt, deutsche Schuld zu relativieren. Da läge eine integrierende Aufgabe für ein Zentrum mit einer nicht geringen „innergesellschaftlichen Legitimation“, wie der polnische Historiker Wlodzimierz Borodziej schreibt.

Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Bevölkerung der neuen Länder, der Fakten und kausale Zusammenhänge der Vertreibungsgeschichte weitgehend verborgen geblieben sind. In Borna oder Rathenow war man selber nicht betroffen. Und die „Umsiedler“ von irgendwo durften sich nicht organisieren und wurden so bald in der DDR-Bevölkerung anonymisiert. Bei den jüngeren Ostdeutschen dürften die Verdrängung und die öffentliche Verunglimpfung der Vertriebenen als Revanchisten durch die SED Spuren hinterlassen haben. Darum sind Wissensvermittlung und politische Bildung zu diesem Thema auf allen Ebenen dringend geboten, damit sich ein unverzerrtes Geschichtsbild entwickeln kann. Und damit diese Deutschen eine „seelische Balance“ finden.

Dies könnte eine Aufgabe des Zentrums sein – wenn, ja wenn es nicht immer noch die politischen Frontlinien der 70er und 80er Jahre gäbe. Die müssten mit dem Sieg der Demokratie in Ostmitteleuropa und mit der deutschen Einheit eigentlich obsolet geworden sein. Aber sie wirken immer noch sehr stark nach und wecken Misstrauen gegen ein Projekt, bei dem der Bund der Vertriebenen (BdV) Regie führt.

Damit sind wir beim zweiten Problem, bei dem Versuch, die jüngste Geschichte europäisch anzugehen – indem man ein Zentrum als internationale Dokumentations- und Begegnungsstätte konzipiert, das die Vertreibungen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ächten und wenigsten aus der europäischen Politik künftig verbannen sollte. Das würde aber auch die bisher nicht debattierte Frage aufwerfen, ob Russland da nicht einbezogen werden müsste?

Beide Anliegen, das nationale und das internationale, unter ein gemeinsames europäisches Dach zu bekommen – diese Aufgabe nimmt sich im Augenblick wie die Quadratur des Kreises aus. Eben weil sie von innenpolitischen Fronten überlagert wird.

Aber nun zu den Nachbarn: Werden sie durch die geplante Variante in Berlin – der Stiftungs-Kovorsitzende Peter Glotz (SPD) weigert sich, sie eine nationale zu nennen – zwangsläufig auf die Anklagebank gesetzt? Ich bezweifle das. Es gibt Beispiele aufrichtigen, nicht aufrechnenden Erinnerns, zum Beispiel das Gedenken der Bombenopfer von Dresden 1995, unter britischer Beteiligung.

Ich kann dem Kommentar der polnischen „Gazeta Wyborcza“ zustimmen: Die deutschen Vertriebenen waren vor allem Opfer der Nazis. Die Zwangsaussiedlung betraf aber nicht nur Nazianhänger und verschonte auch nicht Nazigegner. Sie war eine ethnische Säuberung. Was damals geschah, von den Festlegungen der Siegermächte in Potsdam einmal abgesehen, war vielleicht „ein kleineres Übel, aber niemals eine gute Tat“. Diese Feststellung des Polen Jan Jozef Lipski (1981) ist keine Anklage, aber sie ist ein Ausgangspunkt zu kritischer historischer Selbstbesinnung.

Es wäre wünschenswert, dass die Europäer sich gemeinsam an ihre Geschichte erinnern – jedoch genauer: an was? An das „sehr ähnliche Leid der betroffenen Menschen“ oder an die „sehr unterschiedlichen Ursachen und Kontexte“? Beide Formulierungen finden sich im Aufruf gegen das geplante Zentrum, das der Tagesspiegel hier kürzlich dokumentierte.

Gemeinsames Erinnern an beides, das Aushalten einer „gebrochenen Erinnerung“, wie Reinhart Koselleck das nennt, wird Zumutungen für alle Seiten mit sich bringen. Wenn diese Schwierigkeiten nicht klar ins Auge gefasst werden, dann flüchtet man womöglich aus Angst vor nationaler Erinnerungsarbeit in ein imaginiertes Europa ohne einen Mindestkonsens in der Sache. Das wünsche ich mir ausdrücklich nicht.

Heinrich Olschowsky ist Professor für Polonistik an der Humboldt-Universität.

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