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Im WORT laut: Ein Lob des Eigensinns im digitalen Zeitalters

Hans Magnus Enzensberger schreibt im „Spiegel“ über den modernen Überwachungsstaat: Die letzte Regung der Gegenwehr gegen den Eifer der deutschen Behörden und der Konzerne liegt lange zurück und ist fast schon vergessen. 1983, ein Jahr vor Orwells Datum, sorgte eine relativ harmlose Volkszählung für Aufregung.

Hans Magnus Enzensberger schreibt im „Spiegel“ über den modernen Überwachungsstaat:

Die letzte Regung der Gegenwehr gegen den Eifer der deutschen Behörden und der Konzerne liegt lange zurück und ist fast schon vergessen. 1983, ein Jahr vor Orwells Datum, sorgte eine relativ harmlose Volkszählung für Aufregung. Viele Bürger wandten sich damals an das Verfassungsgericht und hatten mit ihrer Beschwerde Erfolg. Karlsruhe entschied gegen das Vorhaben der Regierung und statuierte sogar ein neues Grundrecht auf „informationelle Selbstbestimmung“ zum Schutz der Persönlichkeit, ein Urteil, das heute naiv erscheint. Niemand hat sich je daran gehalten. Im Cyberkrieg gegen die Bevölkerung haben die machtlosen Datenschützer längst das Handtuch geworfen.

Recht behalten hat George Orwell, was die geltenden Sprachregelungen angeht. Sein „Neusprech“ ist zum offiziellen Soziolekt geworden. Den sogenannten Diensten missfällt die Verfassung. Sie von Computerkriminellen zu unterscheiden fällt schwer. Die neue „Gesundheitskarte“ ist in Wirklichkeit eine elektronische Krankenakte, die einzusehen keinem Hacker schwer fallen dürfte, und die „sozialen Netzwerke“ machen sich den Exhibitionismus ihrer Anhänger zunutze, um sie gnadenlos auszubeuten …

Überaus erfreulich ist es festzustellen, dass bislang alles, was unsere freiwillige Knechtschaft herbeiführt, auf unblutige Weise durchgesetzt worden ist. Die verbleibenden „Überreste der Vergangenheit“ sind keineswegs, wie Lenin es in Russland vorgemacht hat, liquidiert worden. Der Grund dafür ist einleuchtend. Die tolerante Haltung unserer Aufseher beruht auf einer schlichten Kosten-Nutzen-Rechnung. Der Aufwand für das Aufspüren der letzten Widerspenstigen steigt nämlich ins Aschgraue, je näher man dem Idealzustand kommt. Man gibt sich deshalb mit einer 95-prozentigen Überwachung zufrieden. Es wäre zu aufwendig, eine kleine, aber zähe Minorität zu entfernen, die sich aus purem Eigensinn gegen die Verheißungen des digitalen Zeitalters sträubt. Fünf Prozent, das sind immerhin über vier Millionen Leute. Also: Nur keine Panik! Auch in Zukunft wird jeder, der es nicht lassen kann, relativ unbeachtet, sorglos und analog essen und trinken, lieben und hassen, schlafen und lesen können.

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