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Meinung: Immer was zu tun

Stets auf Trab, stets erreichbar: Wir machen zu viel gleichzeitig. Und sparen nicht mal Zeit dabei – denn die verflüchtigt sich

Personen, die noch Busse nutzen, in denen sich Menschen mit Fahrgästen und nicht nur mit ihren Mobiltelefonen unterhalten, können ab und zu neben dem Chauffeur den Hinweis entdecken: „Bitte nicht mit dem Fahrer sprechen“. Wer von der Sammelleidenschaft erfüllt ist, um vergehende Zeiten dem Vergessen zu entreißen, sollte sich baldmöglichst bemühen, an ein solches Schild zu kommen. Es stammt nämlich noch aus einer Epoche, in der die Menschheit mehrheitlich der Auffassung war, man könne eigentlich immer nur eine einzige Sache gründlich und richtig machen, während die gleichzeitige Erledigung mehrerer Aufgaben eine zu vermeidende Gefahr darstellen würde.

Wer heute in einer Großstadt die kommunalen Verkehrsbetriebe nutzt, erlebt eine radikal andere Realität. Er entdeckt Busfahrer, die sich in permanentem Funkverkehr mit ihrer zentralen Verkehrsleitstelle befinden, die dabei gleichzeitig Auskünfte an ratsuchende Fahrgäste geben und nebenbei auch noch Fahrkarten an Kunden verkaufen, die regelmäßig mit zu großen Geldscheinen bezahlen. Aber das scheint sie in ihrem Arbeitseifer noch nicht auszufüllen. Die Fahrer vergessen darüber hinaus nicht, ihre Mitfahrer rechtzeitig über die nächste Haltestation zu informieren und welch große Vielfalt an Umsteigemöglichkeiten sich ihnen dort bietet. Als Entlastung erleben sie es, wenn die Polizei sie gerade nicht über Funk bittet, ihre Aufmerksamkeit auch noch auf flüchtende Bankräuber oder anderweitige Straftäter zu konzentrieren.

Es ist schon bewundernswert, wie sich Busfahrer heutzutage als Jongleure der Simultaneität durch das Gewühl der Großstadt bewegen und ihre Passagiere dabei in den allermeisten Fällen sicher ans Ziel bringen. Da ist es schließlich auch sinnvoll und konsequent, dass die Passagiere neuerdings auf Hinweisschildern dazu aufgefordert werden, sich während der Fahrt einen festen Halt zu verschaffen. Den braucht man freilich auch, da ja nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass sich der Buslenker ausschließlich aufs Fahren konzentriert.

Die Angestellten städtischer Verkehrsbetriebe sind nicht die einzigen und bei weitem auch nicht die auffälligsten und anfälligsten Personen, denen solches Multitasking zugemutet wird. Die allermeisten Menschen vergleichzeitigen ihr Tun freiwillig. Sie begrüßen diese neue Realität der Arbeitsverdichtung als eine attraktive Form von Lebensqualität, die ihnen Abwechslung, Möglichkeitsvielfalt und wachsende Entscheidungsfreiheit verspricht.

Unterschieden sich mächtige Menschen von weniger einflussreichen ehemals durch die Breite und die Vielfalt ihres Aktionsspielraumes, so ist dieses soziale Differenzierungsmerkmal heute abhanden gekommen. Vorstandchefs verraten in Interviews stolz, dass sie jede freie Minute zum Telefonieren und zum Mailen nutzen, selbstverständlich auch im Auto oder im Zug. Ihre Mitarbeiter, vom Prokuristen über die Sekretärin bis zum Lagerarbeiter, tun dies heute ebenso – sie müssen es tun. Allen Hierarchiestufen gemeinsam gilt der Befehl: „Mach mehr aus deiner Zeit!“ Und diesen Imperativ befolgt, wer vermeidet, immer nur an einer Sache zu arbeiten, und wer, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, nicht mehr die Beine hochlegt, sondern den Anrufbeantworter abhört, weil vielleicht noch etwas Dringendes für die Firma zu erledigen sein könnte. Daher auch werden Pausen oder sonstige Unterbrechungen, ob bei der Arbeit, bei Sportereignissen oder im Theater, zunehmend zum Telefonieren und neuerdings auch zur Sichtung und zur Lektüre eingegangener Nachrichten und Informationen genutzt. Dagegen müssen Pausen, in denen nichts getan wird, demnächst unter Artenschutz gestellt werden.

So ist es heute an der Tagesordnung, dass immer dann, wenn man sich entschlossen hat, etwas zu tun, davor oder währenddessen schnell noch etwas anderes getan werden muss. Das hält die Betroffenen nicht selten schließlich davon ab, wirklich das zu machen, was sie sich zu tun vorgenommen hatten. Der Alltag wird so zur ununterbrochenen Collage kurzfristiger Entscheidungen und Ablenkungen.

Diesem immer beliebteren Kult der Vergleichzeitigung dienen in allererster Linie Männer. Man sieht aber zunehmend auch Frauen, die, während sie ihre Kleinkinder stillen, ihre Mails sortieren und nebenbei den älteren Kindern noch das Frühstück herrichten. Im Arbeitsbereich sind weibliche Angestellte dem Vergleichzeitigungsdruck in gleichem Maße ausgesetzt wie ihre meist männlichen Vorgesetzten – häufig noch erheblich umfangreicher. Für sie jedoch ist Parallelarbeit nichts völlig Neues. Die Gleichzeitigkeit von Familien- und Berufsarbeit hat Frauen immer schon gezwungen und befähigt, vielerlei zur gleichen Zeit zu tun. Was sie jedoch von den Männern deutlich unterscheidet, ist ihre nicht unberechtigte Skepsis, mit Multitasking die Freiheit vergrößern zu können.

Die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Aktivitäten, die simultane Arbeit an mehreren Aufgaben, Programmen und Entwicklungen, ist als vereinzelt auftauchendes Phänomen nichts grundsätzlich Neues. Seit langem ist die Gleichzeitigkeit von Essen und Arbeiten – von der Stulle am Schreibtisch bis zum üppigen SechsGänge-Menü mit ausgewählten Topkunden – bekannt. Nicht erst seit kurzem kann man sich fahrend und fliegend von einer Großstadt zur anderen begeben und während des Transports gleichzeitig sein Hungerbedürfnis befriedigen. Übrigens, wie Loriot einmal anmerkte, ein Sachverhalt, der dem Homo sapiens seine Einzigartigkeit in der Welt des Lebendigen verschafft. Denn einzig dem Menschen ist es vorbehalten, beim Fliegen eine warme Mahlzeit zu verzehren. Der für Simultaneität schwärmende Homo telefonensis tritt besonders häufig am Wochenende, wo die Dringlichkeit geschäftlicher Telefonate ja relativ gering ist, in stadtnahen Erholungsgebieten in Erscheinung. Dort lässt sich die Entdeckung machen, dass nurmehr einer kleiner werdenden Minderheit das Spazierengehen „pur“ genügt. Die fixen Briten haben daraus die Konsequenz gezogen und statten ihre Parkbänke mit Internetanschlüssen aus.

Das persönliche Mehrzweck-Medium Mobiltelefon ist gerademal 20 Jahre auf dem Markt und hat in Rekordzeit (der Kühlschrank brauchte erheblich länger) eine flächendeckende Verbreitung erfahren. Entscheidend dazu beigetragen hat seine Multifunktionalität: Man kann mit dem Handy ortsunabhängig kommunizieren, man kann sich mit ihm wecken lassen, Termine organisieren, Notizen speichern, den Spieltrieb befriedigen, ins Internet gehen, Kurzbotschaften (SMS) und Fotos senden und, wenn man will, auch noch die Uhrzeit ablesen.

Gewöhnt haben wir uns inzwischen auch an jene Nachrichtensender, die neben verbalen Informationen noch zwei rasch laufende Infobänder präsentieren. Da haben es Jugendliche besser. Sie erfahren Simultaneität inzwischen als den Normalzustand. Sie wachsen in eine Gesellschaft hinein, die sie Optionssteigerung und Vergleichzeitigung als etwas Selbstverständliches erleben lässt. Bereits beim Frühstück, zu einer Zeit, wo Jugendliche üblicherweise noch nicht allzu sehr für Belehrungen ansprechbar sind, finden sie in ihrer Schoko-Müsli-Packung neben den Haferflocken PC-Tipps mit Lernhinweisen. Dienstags: „Wie öffne ich mehrere Dateien gleichzeitig?“, zwei Tage später dann: „Wie platziere ich zwei Fenster exakt nebeneinander?“

So geschult, gelingt es ihnen anscheinend völlig problemlos, sich in öffentlichen Verkehrsmitteln per Knopf im Ohr mit ihrer Lieblingsmusik beschallen zu lassen, dabei eine SMS an Freunde und Freundinnen zu verschicken und zugleich dem Kontrolleur den Fahrausweis zu zeigen. Den Zugführern der U-Bahnen imponiert die Multitasking-Fähigkeit ihrer jungen Fahrgäste so sehr, dass sie Mitfahrwillige, bevorzugt an belebten Haltestellen, dazu auffordern, „doch bitte an allen Türen zuzusteigen“. Das ist wünschenswert, realistisch ist es kaum und machbar schon gar nicht. Da man sich bisher immer für eine der Türen entscheiden musste, scheinen zumindest in diesem Fall die Grenzen der Vergleichzeitigung erreicht zu sein – bisher zumindest.

Steigt die Kurzfristigkeit der Planung unterschiedlicher Aktivitäten, dann wächst auch die Schnelligkeit des Wechsels zwischen ihnen. Beim Einkaufen überlegt man bereits, wie das zu Erwerbende wieder entsorgt werden kann, beim Fernsehen zappt man hin und her, schaut fix rein und geht schnell wieder raus. Ob man sich unterhält, ob man arbeitet oder sich vergnügt, man kann es nicht mehr unterscheiden. Alles geschieht gleichzeitig. „Quick and easy“ heißt die beliebte Attraktionsformel, mit der das schnelle Essen ebenso angepriesen wird wie das neueste Haarwaschmittel und der Wochenendtrip in die ferne Wüste. Je mehr Abwechslung in immer rascherer Folge, je mehr Möglichkeiten zu gleicher Zeit, umso größer – so die Hoffnung – ist die Wahrscheinlichkeit, dem erfüllten Leben einen Schritt näher sein zu können. In den allermeisten Fällen wird jedoch statt der Erfüllung dieses Wunsches nur dessen Illusion geliefert. Diese jedoch hält nicht allzu lange an, da sie rasch von einer neuen abgelöst wird – das Angebot dafür ist in den meisten Fällen schon auf dem Markt.

Die Folgen dieser zwar grundlegenden, sich aber doch relativ lautlos und problemlos vollziehenden Veränderungen unseres Alltagshandelns sind gravierend. Unentwegte Präsenz bei permanenter Flüchtigkeit zeichnet immer mehr jene Personen aus, die in der heutigen Gesellschaft Anerkennung, Karriere und Erfolg zu finden hoffen. Andere wiederum müssen in dieser multifunktional vergleichzeitigten Welt den Eindruck gewinnen, zu spät in einen Film geraten zu sein und deshalb die Handlung nicht mehr verstehen zu können. Sie sind nicht selten genötigt, darüber zu rätseln, warum alles so „läuft“, wie es eben so geschieht. In solch ratloser Situation trösten sich ältere Multifunktionalisten bevorzugt mit der Volksweisheit: „Kommt Zeit, kommt Rat.“ In der Mehrzahl der Fälle aber kommt der Rat leider doch nicht mit der Zeit. Schon eher kommt an dessen Stelle irgendetwas Neues und Dringenderes, das jedoch wiederum rasch durch noch Neueres Dringenderes abgelöst wird.

Wer bei solch hochbeschleunigter Veränderungsdynamik nach dem Sinn fragt, gerät in Gefahr, als skurriles „Überbleibsel“ einer längst vergangenen Epoche bestaunt zu werden. Der Protagonist einer frühen Postmoderne mit Namen Ulrich in Musils „Mann ohne Eigenschaften“ fragt daher auch, wozu der Mensch „eigentlich einen Sinn brauche? Es ginge doch auch so.“ 90 Jahre später wissen wir es, er hatte Recht. Es geht auch ohne Sinn, nicht zuletzt, weil das, was ist, und das, was man möchte, jederzeit auch anders sein könnte.

Und trotzdem stellt sich die Frage: Warum machen wir das, was wir da so tun? Warum diese sichtbare und überall erfahrbare Tendenz zur Vergleichzeitigung? Die Antwort: Es ist das alte Spiel. Wir wollen nicht verzichten, möchten weiter wirtschaftliche Wachstumsraten und tun alles, um unseren Güter- und Erlebniswohlstand auszubauen, zumindest aber zu erhalten. Das aber geht nur durch die Steigerung der Beschleunigung, indem in der gleichen Zeiteinheit mehr produziert und mehr konsumiert wird. Und für dieses „Mehr“ gibt es zwei Strategien: Zum einen Beschleunigung durch die Steigerung der Schnelligkeit, zum anderen Beschleunigung durch Zeitverdichtung (mehr Gleichzeitigkeit).

Die erste Wachstumsstrategie ist nach 200 Jahren ausgeschöpft– Lichtgeschwindigkeit lässt sich nicht mehr schneller machen. Die zweite, die der Vergleichzeitigung, ist bisher relativ wenig genutzt worden. Sie ist es, auf die wir neuerdings unsere Wachstumshoffnungen verlegen. Die überall hör- und lesbaren Parolen, „mehr Flexibilität zu wagen“, sind ein deutliches Zeichen dafür, ebenso wie die vielen neuen Geräte, die wir in den Betrieben, in den Autos und in den Privathaushalten installieren, die ja fast ausschließlich Multifunktionsgeräte sind. Mit ihnen lässt sich gleichzeitig vieles tun. Der Computer und das Mobiltelefon gehören daher inzwischen zur unverzichtbaren Grundausstattung gegenwarts- und zukunftsorientierten Bürger und Bürgerinnen. Aber auch diese Hochgeschwindigkeits- und Zeitverdichtungsinstrumente erlösen uns nicht von der immerzu quälenden Frage: Wie soll ich leben? Und warum habe ich so wenig Zeit dafür?

Karlheinz Geißler

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