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Meinung: In deutschen Schlangen schwelt der Groll

Roger Boyes, The Times

Es war der alte Ziegenbock Lenin, nicht wahr, der behauptete, dass die deutschen Revolutionäre, die die königlichen Paläste stürmen wollten, zuerst ordentlich anstehen würden, um eine Bahnsteigkarte zu kaufen. Noch ein Beweis, dass Lenin über die Realität nicht auf dem Laufenden war – und dass er die Deutschen nie verstand. Die Deutschen stehen nämlich keineswegs ordentlich an. Es gibt viele Schlangen in Berlin: Reichstag, Goya, Bundesbahn, Schönefeld, Tegel (oder BerlinHegel, wie einer meiner übergebildeten Taxifahrer ihn unbedingt nennen wollte). Doch sie haben weder gute Manieren, noch sind sie gut gelaunt. Der Groll schwelt in ihnen. Vor einigen Tagen gab es in Berlin-Hegel drei Schlangen für Frankfurt, eine davon für die Businessklasse. Die Businessklasseschlange bewegte sich nur sehr langsam, weil der Lufthansa-Assistent angewiesen worden war, nett zu sein, um den 300 Euro teureren Fahrpreis zu rechtfertigen. Für Lächeln braucht man Zeit. Businesspassagiere begannen also, sich zu beschweren, manche sprangen sogar in die Touristenschlange. Mittlerweile wechselten manche Touristenpassagiere von einer Schlange in die andere. Niemand wollte hinter den asiatischen Passagieren stehen, weil alle annahmen (mit Recht), dass die Stewardess ihre Reisepässe dann so analysieren würde wie ein Mönch, der eine biblische Schrift liest. Sie biss sich vor Konzentration auf die Lippen, während die Schlange zur Meute wurde.

Schlangen müssen nicht aggressiv sein. In der Wimbledonschlange herrscht eine Karnevalsstimmung. Für Centre-Court- Spiele steht man die ganze Nacht durch an; typischerweise beginnt eine Schlange um 8 Uhr morgens, die Tore öffnen sich um 12Uhr30: Aber das Warten wird zum Teil des Vergnügens. Die Ordner gehen die Schlange entlang und machen Scherze, Zeitungen werden gratis ausgeteilt. Touristen kaufen T-Shirts, auf denen „Ich habe bei Wimbledon angestanden“ steht. Jeder bekommt ein 27-seitiges Buch: „Ein Führer zum Schlangestehen bei der Meisterschaft“. Nun, das ist eine ordentliche Schlange. Die bravste in Berlin ist die Goya-Schlange, die etwas vom Geist des MoMA wieder erweckt. Sie ist auf ihre Art ein Vorbild für das, was Deutschland groß macht: ein ernsthaftes Engagement über die Klassen hinweg für die Selbstbesserung. Es gab Arbeiter mit Öl unter den Nägeln (Hartz-IV-Finger), Schullehrer auf Urlaub, einen geduldigen, geschiedenen Vater mit zwei Kindern, einen Beamten von der Ausländerbehörde, der blaumachte. Es war auch diese neue Art von Berlinern dabei – die DiMiDos, die Dienstag, Mittwoch und Donnerstag in Berlin und den Rest der Woche bei ihren Frauen in Hamburg verbringen. Manche haben sogar DiMiDo-Liebhaberinnen. Ein DiMiDo verbrachte seinen Mi mit seiner Freundin, so hager wie eine Matratze, in der Goya-Schlange. Als sein Gespräch fortschritt, wurde mir klar, dass ich das deutsche Bildungsbürgertum romantisiert hatte. Sein Ton war statt Erwartung voller Zorn. „Ich werde möglichst lang die Bilder anschauen“, zischte er. „Nach zweieinhalb Stunden Schlangestehen will ich etwas für mein Geld sehen.“ Andere nickten zustimmend. Der Zweck von Goya schien zu sein zu genießen, was andere nicht genießen konnten. Die Menschen vor uns waren der Feind; die Menschen hinter uns erregten Mitleid, oder man verspottete oder unterjochte sie.

Die Reichstagsschlange war kürzer, ungefähr 45 Minuten, und vielleicht aus Angst davor so kurz, dass einem wieder so ein Flugzeug auf den Kopf stürzen könnte. Mir wurde bald bewusst, dass viele sich der Schlange angeschlossen hatten, weil sie hofften, etwas ähnlich Dramatisches könnte passieren. Die Tragödie und der Handel sind komische, aber zwangsläufige Bettgenossen. Es gibt Schlangen von Touristen, die im Moment versuchen, Ägypten zu verlassen – aber auch Schlangen, um dorthin zu fliegen: Opportunisten, die überzeugt sind, dass der Terrorismus zu geringeren Preisen führt. Jede Bombe bringt ein Schnäppchen im Gefolge. In was für einer Welt leben wir eigentlich?

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