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Meinung: In die Köpfe schleusen

„Berlin braucht eine Sprachoffensive“ vom 30. August Özcan Mutlu hat recht, wenn er die monokulturelle Ausrichtung von Schulklassen beklagt, nur stellt sich die Frage, wie es dazu kommen konnte und welche politischen Akzente in den letzten Jahren in dieser Frage gesetzt wurden.

„Berlin braucht eine Sprachoffensive“

vom 30. August

Özcan Mutlu hat recht, wenn er die monokulturelle Ausrichtung von Schulklassen beklagt, nur stellt sich die Frage, wie es dazu kommen konnte und welche politischen Akzente in den letzten Jahren in dieser Frage gesetzt wurden. Wie kann es sein, dass es in einer Stadt, die nun wirklich Erfahrungen mit dem Zusammenleben verschiedener Kulturen gesammelt hat und die sich neben einem Beauftragten für Integration und Migration noch eine Senatsverwaltung für Integration leistet, im Bereich der Schule in großen Teilen nur noch viel zu wenig Begegnung zwischen verschiedenen ethnischen und kulturellen Identitäten gibt.

Als Lehrer an verschiedenen Gymnasien – nur für diesen Bereich kann ich sprechen – in Kreuzberg und Neukölln und als Fachseminarleiter in der Lehrerausbildung, habe ich in den vergangenen 20 Jahren miterleben müssen, wie mehr und mehr ethnische und soziale Heterogenität verloren gegangen ist. Wie kann die Politik hinnehmen, dass es etwa in Kreuzberg inzwischen zwei Gymnasien mit einem Migrantenanteil von annähernd 100 Prozent gibt, während das dritte Gymnasium eine vorwiegend bildungsnahe Klientel ohne Migrationshintergrund bedient? Dabei ist es nicht nur die Mehrheitsgesellschaft, die ihre Gymnasien gerne möglichst „türken- und araberfrei“ hätte, sondern mehr und mehr setzt sich auch innerhalb der Migranten-Community der Wunsch durch, unter sich zu sein. Wie viele Lernende an meinem Nordneuköllner Gymnasium sind erst an unsere Schule gewechselt, um Diskussionen oder vielleicht auch Anfechtungen aus dem Wege zu gehen, „an meiner alten Schule gab es in der siebten Klasse außer mir nur zwei Mädchen, die Kopftuch trugen“. Kann es sich unsere Gesellschaft leisten, auf Schule als Ort von interkultureller Begegnung und Auseinandersetzung zu verzichten? Wie häufig bin ich als Lehrer im Fach Politikwissenschaft mit der Situation konfrontiert, dass an bestimmten Punkten aus dem Leistungskurs unisono kommt: „Wir als Muslime sehen das aber so und so“. Da kann man ein noch so vertrauensvolles Verhältnis zu den Lernenden suchen, wenn kein Mitschüler dieses ja nur scheinbare Einverständnis durchbricht, verstreichen wichtige Chancen ungenutzt.

Natürlich ist die multikulturelle Schule eine große Herausforderung, aber wo, wenn nicht dort, wo, wenn nicht bei der Ausbildung zukünftiger Abiturienten, ist der Dialog und auch die Kontroverse um Weltanschauungen und Wertvorstellungen unbedingt erforderlich in einer Stadt, in der in 20 Jahren mehr als die Hälfte der jungen Menschen einen Migrationshintergrund haben wird.

Dass sich die Berliner Bildungspolitik in dieser wie in so vielen anderen Fragen wegduckt, wohlweislich die politische Kontroverse meidet und stattdessen Erfolgsmeldungen herbeievaluiert, halte ich für katastrophal!

Stefan Wirbelauer, Berlin-Mariendorf

Ich bin 76 Jahre alt und arbeite seit gut acht Jahren ehrenamtlich in dem Kindergarten, den meine Enkelin früher besucht hat. Zusammen mit meiner Kollegin und Freundin – wir betreuen ehrenamtlich kleine Patientenbüchereien – haben wir wöchentlich eine Vorlesestunde. Als wir bemerkten, dass es in vielen Elternhäusern keine Bücher gibt, haben wir mit Spendengeldern eine kleine Bücherei eingerichtet. In dem Kindergarten werden Kinder aus bis zu 10 Ländern betreut. Nun sind wir weder pädagogische noch soziologische Fachkräfte, doch machen wir immer dieselben Beobachtungen. Die meisten Kinder eignen sich Kenntnisse der deutschen Sprache schnell an, der Kulturkreis und die soziale Herkunft spielen dabei eine untergeordnete Rolle, solange Eltern und Kinder unvoreingenommen darauf eingehen. Wenn aber Kinder erzählen, dass ihnen zu Hause überhaupt nicht vorgelesen wird, den ganzen Tag ein fremdsprachiges Fernsehprogramm läuft, Kontakt zu anderen Kindern nicht gern gesehen wird, deutschen Bilderbüchern mit Ablehnung begegnet wird, und wenn diese Kinder dann nur unregelmäßig den Kindergarten besuchen, erlebe ich immer wieder, dass diese Kinder im Spracherwerb keine Fortschritte machen.

Lieber Herr Mutlu, der Spracherwerb ist eine individuelle Leistung. Noch so kostspielige und raffinierte Konstruktionen der Kindergärten und Schulen können die Sprache nicht in die Köpfe der Kinder schleusen. Ich bin der Auffassung, dass Familien, die seit Jahren oder sogar seit Generationen in Deutschland leben, es ihren Kindern und der Gesellschaft schulden, die Kinder nicht ohne Deutschkenntnisse in den Kindergarten oder die Schule zu schicken. Besonders positiv würde es sich auswirken, wenn diese Kinder erleben, dass ihre geliebten und bewunderten Eltern sie an diese Aufgabe heranführen und im Spracherwerb fördern und unterstützen.

Elisabeth Loewe, Hannover

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