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Sommer an der Ostsee-

© dpa

Individualität als Massenphänomen: Evolutionsbiologisch sind wir Holländer

Alle finden Frauenquoten, Mindestlöhne und Helmut Schmidt super. Warum? Weil wir Menschen evolutionär anpassungsfähige Opportunisten sind. Den Individualisten frisst der Säbelzahntiger

Neulich habe ich alte Bilder von mir aus den 80ern angeschaut. Ich konnte es kaum fassen, wie fürchterlich ich mich damals kleidete. Und erst die Frisur! Wirklich grausam. Der einzige Grund, weshalb ich diesen Mode-Irrsinn mitmachte: Mein gesamter Freundeskreis sah genauso fürchterlich aus. Was das angeblich so individuelle Handeln angeht, sind wir eher wie eine große Masse von Lemmingen, die hin und her rasen, je nachdem, wohin der Trend zeigt. Wir finden vor allem das logisch, was andere auch tun. Warum sonst bleiben wir zusammen mit anderen Fußgängern fünf Minuten an einer roten Ampel stehen, obwohl laut Zeugenaussagen auf dieser Straße das letzte Auto im Juni 2004 gesichtet wurde?

Wir kaufen iPhones, trinken Coca Cola und trennen unseren Müll. Nicht unbedingt, weil wir uns kritisch mit Qualität oder Sinnhaftigkeit auseinandergesetzt haben, sondern vor allem, weil es alle anderen um uns herum auch tun. Wenn vor zehn Jahren jemand vorausgesagt hätte: Ihr werdet irgendwann in schicke Designerläden gehen und dort kleine Aludöschen mit Kaffeepulver für drei Euro fünfzig kaufen – jeder von uns hätte doch kopfschüttelnd gestöhnt: „Was für eine beknackte Idee!“ Warum tun wir das? Weil es alle tun! „Quatsch“, sagt meine Frau, „weil vielleicht doch George Clooney vorbeikommt…“

Offensichtlich sind wir keine freidenkenden Individualisten, sondern anpassungsfähige Opportunisten. Damit beschäftigt sich seit Jahrzehnten auch die Wissenschaft. Bereits 1952 führte der Sozialpsychologe Solomon Asch ein legendäres Experiment durch: Er legte einer Gruppe von Freiwilligen Karten mit unterschiedlich langen Linien vor und bat sie, diejenigen auszuwählen, auf denen die Linien gleich lang waren. Der Gag an der Sache: Die meisten Probanden waren in das Experiment eingeweiht und gaben absichtlich alle die gleiche, eindeutig falsche Antwort. Asch wollte wissen, ob sich die echten Versuchsteilnehmer davon beeinflussen ließen. Das Ergebnis war befremdend: Nach leichtem Zögern schlossen sich rund 80 Prozent der untersuchten Personen der Mehrheitsmeinung an und stimmten der falschen Antwort zu. Je größer die Gruppengröße der Leute mit den falschen Antworten war, umso deutlicher war das Ergebnis. Oft jedoch reichte schon ein einziger „Komplize“, der widersprach, und die Testperson bestand auf der richtigen Meinung.

Im Jahr 2005 entwickelte der Neurowissenschaftler Gregory Berns von der Emory University in Atlanta das Asch-Experiment noch weiter. Mithilfe der Magnetresonanztomografie überwachte er die Gehirnaktivität seiner Probanden und stellte etwas noch Absurderes fest: Immer, wenn sich die Teilnehmer entgegen ihrer eigenen Wahrnehmung der Mehrheit anschlossen, war die höchste Aktivität im intraparietalen Sulcus zu verzeichnen, einem Bereich, der für das räumliche Vorstellungsvermögen zuständig ist. Die Teilnehmer hatten sich folglich nicht nur bewusst für eine falsche Antwort entschieden, sie nahmen nach dieser Entscheidung die Länge der Linien auch tatsächlich anders wahr! Ein Phänomen, das vielen Frauen bekannt vorkommt, wenn Männer untereinander von „zwanzig Zentimetern“ sprechen.

Nach 3000 Jahren Philosophie, Logik und Wissenschaft hat sich nicht viel geändert

Der Drang nach Konformität ist so stark ausgeprägt, dass normale, intelligente und aufgeschlossene Menschen unter bestimmten Bedingungen glauben, dass zwei plus zwei fünf ergibt. Auf diesem Prinzip basiert wahrscheinlich auch die Haushaltspolitik der Bundesregierung.

Evolutionsbiologen vermuten, dass dieser Gruppendruck tief in unserem evolutionären Erbe verwurzelt ist. Die menschliche Spezies hat bis heute überlebt, weil unsere Urahnen darauf konditioniert waren, anhand einfacher Regeln Entscheidungen zu treffen. Und eine zentrale Entscheidung war: „Tue das, was die anderen auch tun, dann liegst du nicht ganz falsch.“

Und dabei halten wir uns so gerne für unabhängig denkende Wesen. Aber das stimmt eben nicht ganz. Unser Gehirn wurde nämlich nicht primär für Wahrheitsfindung konstruiert. Genau genommen ist unserem Gehirn die Wahrheit vollkommen egal. Es hat sich nicht entwickelt, um herauszufinden, ob die Erde eine Scheibe, eine Kugel oder ein Rotationsellipsoid ist, sondern um in einer Kleingruppe von 30, 40 Menschen zu überleben. Und dafür war es vor allem wichtig zusammenzuhalten. Der Individualist, der in der Steinzeit „so sein eigenes Ding“ gemacht hat, der ist vom Säbelzahntiger gefressen worden. Von dem stammen wir nicht ab. Wir stammen von jenen ab, die abends am Lagerfeuer saßen und mit großen Augen einem Typen zuhörten, der mit einem Tierschädel auf dem Kopf monotone Zauberformeln gesungen hat.

Und daran hat sich selbst nach 3000 Jahren Philosophie, Logik und Wissenschaft nicht viel geändert. Besonders, wenn es um Sex, Selbsterhaltung, Status, Kooperation oder Konkurrenz geht, spult unser Hirn ein jahrmillionenaltes Programm ab. Dagegen kommen wir nur schwer an. Kein Wunder, denn 99 Prozent unserer gesamten Entwicklungsgeschichte haben wir als primitive Jäger und Sammler gelebt. Wir sind in kleinen Nomadenverbänden durch die Gegend gezogen, in denen vollkommen andere Gesetze galten. Ein primitiver, lebenslanger Campingurlaub. Man kann sagen, evolutionsbiologisch sind wir alle Holländer. Das ist nicht schön.

Fast alles, was wir heute „menschlich“ nennen, stammt aus dieser Zeit. Natürlich kamen kulturelle Errungenschaften wie Landwirtschaft, Bildung und Gameshows dazu, aber aus evolutionärer Perspektive ist dieser Zeitraum viel zu kurz, um entscheidende, grundsätzlich neue Anpassungen hervorzubringen. Unser jetziges 1,4 Kilogramm schweres Gehirn hat sich seit 100 000 Jahren nicht mehr wesentlich verändert. Unser Betriebssystem läuft sozusagen auf einer Hardware, die das letzte Mal bei der Geburt von Jopie Heesters upgedatet wurde.

Selbstverständlich haben wir in diesem Zeitraum eine Menge geleistet. Die Sumerer erfanden das Rad, die Babylonier die Metallverarbeitung, der Baden-Württemberger den Bausparvertrag. Und das hat die Welt innerhalb kürzester Zeit komplett verändert. Ohne die Erfindung der Glühbirne müssten wir heute noch bei Kerzenlicht fernsehen.

"Wir sind alle völlig verschieden!“ „ICH nicht!“

Glücklicherweise gibt und gab es immer wieder Ausreißer, Außenseiter und Verweigerer des Mainstreams. In dem Film „Das Leben des Brian“ der britischen Komikertruppe Monty Python gibt es eine wunderbare Szene, in der Brian auf einem Balkon zu einer Menschenmenge herunterschreit: „Ihr seid doch alle Individuen! Ihr seid doch alle völlig verschieden!“ „Jaaa! Wir sind alle völlig verschieden!“ Doch einer ruft: „ICH nicht!“

Jede erfolgreiche Gesellschaft braucht ein gewisses Maß an Querdenkern und Nonkonformisten: Menschen, die sich gegen den Gruppendruck stellen und diesen kritisch hinterfragen. Denn die Vergangenheit zeigt, dass das, was der Mainstream als richtig, wichtig und wahr empfand, oftmals ziemlicher Blödsinn war.

Galileo Galilei wurde eingesperrt, weil er entgegen dem Mainstream die Ansicht vertrat, dass die Erde sich um die Sonne dreht. Ignaz Semmelweis, der Entdecker des Kindbettfiebers, starb 1865 in einer Irrenanstalt, nachdem seine zutreffende Theorie von allen führenden Medizinern der damaligen Zeit als Spinnerei abgetan wurde. Der Polarforscher Alfred Wegener entdeckte die Kontinentaldrift und erntete bei seinen etablierten Kollegen verständnisloses Kopfschütteln.

Heutzutage redet die ganze Welt von der Schwarmintelligenz. Von „Schwarmdoofheit“ habe ich hingegen selten etwas gehört, obwohl sich die Masse in der Rückschau nicht selten als ziemlich ignorant gegenüber intelligenten Ideen erwiesen hat. Ein Nobody entwickelt eine neue Theorie, wird dafür verspottet oder drei Tage lang in einem zugigen Keller an seinen Daumen aufgehängt. Manchmal wird er sogar umgebracht. Nach einer Weile sagt man: „Hm, die Idee des verstorbenen ,Wie-hieß-der-doch-gleich?’ war doch gar nicht so übel. Vielleicht sollten wir sie mal ausprobieren?!“ Dann klauen sie seine Idee, machen eine Menge Geld mit ihrer Umsetzung, und wenn sie ganz nett sind, benennen sie einen Seitenflügel der Bibliothek nach dem eigentlichen Urheber.

So schlimm ist es in unseren modernen Zeiten zum Glück nicht mehr. Doch die Überzeugung, dass jeder Mensch ein individuelles Wesen ist, das sich entgegen dem Mainstream entfalten darf, ist gerade mal dreihundert Jahre alt. „Du darfst alles tun, was andere als vollkommen idiotisch ansehen, solange du damit keinen schädigst“, hieß es damals sinngemäß in der Aufklärung. Oder wie es Immanuel Kant etwas intellektueller ausdrückte: „Habe Mut, Dich deines eigenen Verstandes zu bedienen – auch dann, wenn Du keinen hast.“

Das entscheidende Element unserer abendländischen Kultur ist also nicht unbedingt die Mitbestimmung, sondern die Selbstbestimmung. Die Idee, dass jeder Mensch ein individuelles Wesen ist, das sich frei entfalten darf. Der Philosoph John Stuart Mill nannte diese Idee „Selfownership“: das Eigentum an mir selbst.

Nicht wenigen ist diese Form der Individualisierung immer noch suspekt, und sie befürchten einen Verfall der gemeinschaftlichen Werte. Doch blickt man auf die Geschichte, so sind die schlimmsten Verbrechen der Menschheit nicht durch individuelles Handeln, sondern durch gruppenzentriertes Herdendenken entstanden. Stalin sagte: „Gemeinnutz vor Eigennutz.“ Die Nazis sagten: „Du bist nichts, Dein Volk ist alles.“ Wer sich dagegen selbst verwirklichen will, hat selten Lust, sich für eine „große Sache“ zu opfern.

Zugegeben, unsere Individualitätskultur hat auch ihren Preis. Pro Jahr investieren wir Deutschen neun Milliarden Euro in Lebenshilfe, Selbstverwirklichung und Sinnsuche. „Simplify your life – Befreie Dich vom Gerümpel“ habe ich neulich gelesen. Und das in einer Welt, in der man fürs Finanzamt die Tankquittungen zehn Jahre lang aufheben muss. Und je sinnloser die Tätigkeit, umso sinnvollere Begriffe findet man dafür. „Müde sein“ heißt „Burn-out“, „Rumlatschen“ heißt „Pilgern“, „Nichtstun“ heißt „Wellness“. Selbst mein Nachbar macht diesen Unsinn mit. Früher war er einfach nur stinkfaul, heute ist er ein „trockener Workaholic“.

Doch das Absurdeste dabei ist: Die meisten sogenannten „Nonkonformisten“ benehmen sich innerhalb ihrer eigenen Gruppe auf eine bizarre Art und Weise vollkommen konformistisch. Egal ob Punker, Veganer, Computernerds oder Stuttgart-21-Demonstranten. Und sie sehen auch alle gleich aus! Selbst Rapstars, deren Klamotten, Autos und Tattoos absolut identisch sind, singen: „Sei kein Normalo, sei Du selbst, Motherfucker!“

Jeder von uns will einzigartig sein, etwas ganz Besonderes. Individualität als Massenphänomen. Alle sind gegen Atomkraft und Gentechnik, finden Frauenquoten, Mindestlöhne und Helmut Schmidt super, Banker und Topmanager dagegen doof. Konsens, wohin man schaut. Ein fades, nonkonformistisches Einerlei. Oder wie der Philosoph Eric Hoffer schon vor Jahren vermutete: Wenn Leute machen können, was ihnen gefällt, ahmen sie einander nach.

Wir Menschen sind auf eine subtile Art und Weise Stammeswesen geblieben. Die Gründe dafür mögen im Einzelfall individuell, vielfältig und komplex sein. Doch das Asch’sche Konformitätsexperiment hat auf plakative Weise gezeigt, wie viel Steinzeitmensch auch nach tausenden Jahren Zivilisation in uns schlummert. Die Angst vor dem Säbelzahntiger steckt uns anscheinend immer noch in den Knochen.

Das ist doppelt paradox, denn inzwischen können wir es uns gesellschaftlich problemlos leisten, individuell zu leben. Brechen Sie daher mit Ihren Konventionen, und tun Sie einmal am Tag etwas wirklich Nonkonformes: Schenken Sie einem Gewerkschafter einen FDP-Kugelschreiber! Werfen Sie eine Pfandflasche in den Altglascontainer! Putzen Sie Ihre Zähne morgens mit Elmex und abends mit Aronal! Ihr alle seid Individualisten… Oder nicht?

Vince Ebert

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