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Integration: Multikulti ist kein Ponyhof

Das Staunenkönnen über die andere Perspektive: Europa durchläuft gerade die Lehre der Vielfalt.

Eine junge Frau geht durch eine Straße in Brüssel. Blicke durchschneiden ihren Weg, anzügliche Bemerkungen, Beleidigungen halten sie auf, nicht weniger beleidigende Angebote. Von Männern. Und nicht von irgendwelchen. Es sind überwiegend nicht-autochthone Belgier, die der Frau – der Filmstudentin Sofie Peeters – zusetzen. Was ihrem leidenschaftlich diskutierten Film prompt den Vorwurf des Rassismus eintrug.

Es ist aber nicht rassistisch, das Leben abzufilmen. Die Frage ist, was man aus dem folgert, was man sieht. Nein, hier ist nicht gemeint, für Vergehen gegen das Gleichheitsgebot kulturellen Kredit zu gewähren. „Die sind eben so, die müssen erst lernen“ ist auch nichts weiter als die Softversion von Kolonialismus. Aber die Szenen könnten Erinnerungen aufrufen, mindestens in der mittleren und älteren Generation von Frauen und nicht nur in Belgien. An die Anmache, die Beleidigungen, die noch ihre jungen Jahre gezeichnet haben, sagen wir noch vor 30 Jahren. An die wildfremden Männer, die ihnen damals ungefragt und aus durchsichtigsten Gründen Drinks aufdrängten, ihnen nur mal schnell zu Hause die „Briefmarkensammlung“ zeigen wollten oder sie im übervollen Bus ungeniert angrabschten. Während gleichzeitig die „anderen“ Männer, die Gastarbeiter aus dem Süden, zu Sündenböcken gemacht wurden. Kneipenverbote, Briefe an die Lokalzeitung: Die nehmen uns unsere deutschen Frauen weg! Das Kriegsgeheul, das sich noch ein paar Jahre zuvor gegen Juden gerichtet hatte, meinte nun die neuen anderen.

Dass es sich hier um das Umrubeln von Gewalt gegen Frauen in die Kategorien von Rassenschande handelte, dürfte heute unmittelbar einsichtig sein. Bei anderen Themen ist das schwieriger. Das Trommelfeuer gegen die Beschneidung etwa scheint nur einem edlen Anliegen zu gelten, dem Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit, dazu noch wehrloser Kinder. Doch auch dieses Anliegen hat eine hässliche Geschichte: Blutige Fantasien darüber, was Juden angeblich mit Kindern anstellten, gehörten über viele Jahrhunderte zum antisemitischen Inventar. Kein Zufall, dass am Anfang der Debatte der Fall eines muslimischen Jungen stand. Das soll nicht hindern, über Beschneidung als Körperverletzung zu diskutieren, auf keinen Fall. Aber es sollte allzu selbstgewisse Verteidiger der Kinderrechte etwas bescheidener und ihnen klarmachen, dass es nicht nur eine Sicht auf die Dinge gibt

Das ist eigentlich eine Banalität. Aber sie scheint erst im Umgang mit dem sogenannten anderen begreifbar zu werden. Übrigens eine wunderbare Chance der multikulturellen Gesellschaft, dieses ständige Staunenkönnen über die andere Perspektive. Es macht fit fürs Leben in einer immer stärker verflochtenen Welt. Die Konfrontation ist natürlich anstrengend, Multikulti ist kein Ponyhof. Aber, um ein gut altdeutsches Sprichwort zu bemühen: Lehrjahre sind auch keine Herrenjahre. Europa durchläuft, so scheint es, gerade die Lehre der Vielfalt. Nebenbei: auch in dieser Krise, die zeigt, dass die EU nicht einfach gute und schlechte Volkswirtschaften im Euro vereint, sondern nördliche und südliche. Gutsherren-Arroganz ist da eine schlechte Ratgeberin. Aber das ist ein ganz anderes Thema.

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