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Meinung: Intelligente Nächstenliebe

Die Kirchen fordern Eigeninitiative und Wettbewerb in der Gesundheitspolitik

Wenn die Sozialsysteme überfordert sind, gibt es nur zwei Auswege: Entweder man setzt die Beiträge für die Versicherungen nach oben (obwohl das die für alle diese Probleme mit ursächliche Arbeitslosigkeit wohl weiter steigen lässt), oder man kürzt die sozialen Leistungen. Derzeit versucht die Regierung beides zugleich. Wer da nur von Sozialabbau reden kann, muss natürlich jede Änderung am Status quo verhindern, muss nach Bündnispartnern suchen – und glaubt sie nicht zuletzt in den Kirchen zu finden. Wozu auch immer die Kirchen noch zu gebrauchen sein mögen, gegen Sozialabbau sind sie allemal gut, ebenso wie für Friedensdemonstrationen. Kein Wunder, dass die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer in diesem Sinne soeben an die EKD-Synode appellierte.

Aber die beiden großen Kirchen können längst nicht mehr als strukturkonservative Nachhut der Sozialpolitik betrachtet werden. Schon nach dem „Gemeinsamen Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage“ von 1994 musste man zu einem anderen Urteil kommen. Ein kluger protestantischer Politiker hatte seinerzeit gesagt, der geistesgeschichtliche Wert dieses Papiers liege darin, dass die katholische Soziallehre sich mit dem Markt als Modell versöhnt habe.

Inzwischen ist die Debatte in der katholischen Kirche weitergegangen. In der zuständigen Kommission der katholischen Bischofskonferenz hat der Begriff der „Beteiligungsgerechtigkeit“ fast schon einen Vorrang vor der „Verteilungsgerechtigkeit“ gewonnen. Beteiligung – das setzt beides voraus: Mitsprache bei den notwendigen Veränderungen, vor allem anderen aber: Eigenverantwortung. Das ist das Subsidiaritätsprinzip einen Schritt weiter gedacht: Die anderen sollen nur das (und das dann ganz) leisten, was jemand nicht selber für sich tun kann.

Vor der Solidarität steht also die Selbstverantwortung – und erst aus ihr heraus folgt die Mitverantwortung für andere. Was das aus der Sicht evangelischer Sozialpolitik bedeuten kann, hat erst jüngst eine vom Rat der EKD approbierte, geradezu systemsprengende Stellungnahme zur Gesundheitspolitik deutlich gemacht. Dieses Votum verlangt, dass der potenzielle Patient (der aktuelle Versicherte) die eigene Verantwortung für seine Gesundheit deutlicher wahrnimmt. Das kann er aber nur, wenn er einen Einfluss auf die Kosten seiner Versicherung bekommt. Dies wiederum setzt – unter Wahrung eines obligatorischen Kerns der solidarischen Grundsicherung – den offenen und harten Wettbewerb aller Krankenkassen untereinander voraus, und zwar um Leistungen und Preise. Folgte man diesem Modell, so würden verpflichtende Solidarität und verantwortliche Selbstbestimmung auf eine ganz moderne Weise zueinander ins Verhältnis gesetzt. Es versteht sich fast von selbst, dass solch ein fast revolutionärer Entwurf derzeit weder von der Regierung eingelöst noch von den medizinisch-pharmazeutischen Lobbyisten aufgegriffen wird: zum einen, weil er quer zu allen Kartellen der Gesundheitspolitik steht, zum anderen, weil man die Kirchen sozialpolitisch in der Ersatzreserve zwo vermutet, obwohl sie sich langsam an die Spitze des Zuges bewegen.

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