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Internet: Neue politische Macht

Ein Trojaner wird zur Staatsaffäre, Joseph Kony weltbekannt und das Urheberrecht zur Schicksalsfrage: Aus dem Internet erwächst eine faszinierende politische Macht. Wie sollten wir damit umgehen?

Ein Gespenst geht um, das Gespenst einer netzpolitischen Macht. Es trägt wechselnde Masken; mal die des Sprengstoffattentäters Guy Fawkes, eines Mannes, der Anfang des 17. Jahrhunderts mit dem Westminsterpalast vorhatte, was Osama bin Laden 400 Jahre später mit den Zwillingstürmen in Manhattan gelang; mal tritt es harmloser auf, trägt Kapuzenpullover, die Haare schulterlang und raunt etwas von Transparenz und Urheberrecht; es nennt sich Pirat, Namenloser oder Netzaktivist, hackt Behördenserver, knackt Staatstrojaner, besetzt Börsenviertel, kippt Völkerrechtsverträge und zieht in Parlamente ein. Es ist meist männlich und meist online. Es herrscht über einen Kosmos, in dem ein vergessener ugandischer Rebellenführer binnen Stunden weltweit zum zweitgrößten Verbrecher nach Adolf Hitler ausgerufen werden kann. Wer ihm begegnet, fühlt sich schlagartig lahm und alt. Es verbreitet einen schlimmen Schrecken, dieses Gespenst.

Nun gibt es zwei anerkannte Möglichkeiten, mit Gespenstern umzugehen. Man kann sie an seinen Tisch bitten und zum Hausgeist für anregende Gespräche machen, nach Art von Hui Buh. Oder man vertreibt sie. Die dritte Option, sie zu ignorieren, ist keine. Bleibt der Spuk, bleiben Furcht und Fremdheit. Derzeit regiert Angst. Ein „Shitstorm“, und die überforderten Ghostbusters in der Politik suspendieren Gesetze, von denen sie ein paar Mausklicks zuvor noch überzeugt waren.

Was macht das Gespenst so ruhelos? Es sind die neuen Grünen, heißt es, die in der gigantischen Keimblase des Internets ihrer politischen Emanzipation entgegenreifen. Es sind „Digital Natives“, Vorboten einer vollelektronischen sozialen Realität, in der wir dereinst alle leben werden. Es sind virtuelle WG-Bewohner, Kommunarden wie damals Uschi Obermaier und Rainer Langhans, die Filesharing als neuen Sozialismus preisen. Es sind Jugendliche, die gegen ihre Eltern aufbegehren, Spinner, die sich langweilen, Jungs, die spielen…

Viele Erklärungen, noch mehr Ungewissheit. Obwohl das Internet doch so neu nicht ist. Wer heute über vierzig ist, kann sich gut daran erinnern, wie erstmals unfallfrei Mails versendet wurden; an die Geduld, die es brauchte, bis sich eine Website aufgebaut hatte, an den Beginn der Google-Suche und die Facebook-Vorläufer. Doch ging es damals mehr um Reibach, den Start-up des Kapitals, weniger um die Milderung des Weltelends. Die frühe kommerzielle Blüte des Netzes konnte zu einer Blase entarten, ohne dass die Datenkanäle als tönender politischer Resonanzraum wahrgenommen worden wären.

Dass es heute anders ist, liegt nicht nur an schnelleren Prozessoren und größeren Datenspeichern. Es liegt wohl auch an den geänderten Verhältnissen. Nach dem Schreck der Finanzkrise fuhr eine Generation ihre Rechner hoch, die den Fall des Eisernen Vorhangs in Europa nicht miterlebt hatte und nun schleichend eine Ahnung davon bekam, was es bedeuten kann, wenn sich Geschichte ereignet. Die Welt blieb in den Fugen, aber nur knapp. Wer war schuld, wer ist der Böse? Gegen was und wen soll man kämpfen?

Das Internet gibt darauf keine Antwort, aber es bot sich an als noch unentdeckter Ort, als idealisierbare Gegenwelt. So kam es zum Aufstand gegen ein schwer handhabbares Gesetz, das allerdings das immerhin ehrenwerte Ziel verfolgte, Aufrufe von Kinderpornos im Netz zu sperren. Ausgerechnet bei diesem Tabuthema, das bis dahin Generationen, Milieus und Parteien in Abscheu vereinte, gelang es einer erwachenden Netzpolitik, den Schutz der Internetfreiheit als höheren Wert zu etablieren; es drohe sonst „Zensur“. Damit war das Thema gefunden, wurde das Medium zur Botschaft. Die neue Netzgeneration hat ihr Online-Dasein seitdem zum Alleinstellungsmerkmal ausgebaut. So wachsen ihre Kräfte, was sie selbst überrascht. Ihre Plattform hat sich als Teil und Referenzpunkt der Massenkommunikation etabliert. Zum Druck der Straße gesellt sich der des Netzes, eine Zwitterform aus Demo und Medienmacht.

Noch ein weiterer Faktor beschleunigt die Rezeption der Netzbürgermeinungen, er markiert einen Unterschied zum Aufstieg der grünen Bewegung. Als jene mit Turnschuhen, Stricknadeln und Blumenpötten die Parlamente eroberten, schlug ihnen ein Ressentimentmix entgegen, der in ihrer scheinbar antimodernen Haltung und ihrem Ruf als Sammlung von Restkommunisten begründet lag. Die wollen doch, dass wir wieder auf den Bäumen sitzen, hieß es. Oder man sah die fünfte Kolonne Moskaus am Werk.

Wie anders ist es jetzt bei den Netzprotestlern. Sie gelten manchen politischen Eliten als verkabelte Avantgarde. Derselbe technokratische Reflex, der die Grünen damals zunächst noch abgewehrt hatte, befördert die Online-Aktivisten nun mit Macht in die öffentliche Arena. Demütig empfangen wir die Erkenntnis der Auguren, auf dass ihre Zukunft auch die unsere sein mag. Im Gegenzug sprechen sie technisch und netzmäßig weniger Versierten die Eignung ab, die virtuellen Claims mit abzustecken. Der politische Widerspruch dagegen ist erstaunlich gering; eigentlich merkwürdig, ist es doch so, als übernähmen Autoingenieure die Straßenplanung oder kümmerten sich Raucher um Nichtraucherschutz. Dass die Aktivisten Weltanschauung durch Netzanschauung ersetzt zu haben scheinen und damit jedem Ideologieverdacht entgehen, macht sie in diesen pragmatischen Zeiten doppelt anschlussfähig.

Rauschhafte mediale Politisierung

Greifbar wird das am Beispiel des „Chaos Computer Club“ (CCC), nach eigenen Angaben Europas größtem Hackerverein. Sogar das Bundesverfassungsgericht schätzt seinen Rat. Er beeinflusste mit unhinterfragbarer Sachkunde maßgeblich das – in der Tendenz richtige, aber im Ergebnis überzogene – Urteil zur Vorratsdatenspeicherung. Ein Nimbus, der seine Kraft im Streit um den „Staatstrojaner“ neuerlich bewies, als der CCC einen Festplattenfund mit publizistischer Schützenhilfe zum größten Sündenfall in der Geschichte digitaler Administration heraufgedonnert hat. Die in wenigen Dutzend Fällen verwendete Lausch-Software für Computergespräche ist umstritten, weil sie mangelhaft gesichert sein soll, über die angewandten Rechtsvorschriften kann man zudem diskutieren. Doch ist bislang kein Missbrauch bekannt geworden, selbst der Bundesdatenschutzbeauftragte konnte keinen finden, wie er jüngst dem Bundestag berichtete. Die gebrandmarkten „schweren Rechtsverstöße“ errechnen sich allein aus einem für Nichtfachleute unentschlüsselbaren Abgleich digitaler Codierung mit geschriebenen Gesetzen. Ein hypothetisch-virtueller Skandal, der möglicherweise zu einem überfälligen Update von Software und Normen führen wird, sich jedoch gemessen an dem, wie er in Szene gesetzt worden war, als Popanz erweist.

Der digitale Skandal kann folglich ein anderer sein als der, den man aus dem „richtigen Leben“ kennt. Man muss sich, in beiden Sphären, anhand des Einzelfalls ein Urteil bilden. Beispielhaft zwiespältig fiel die Bilanz aus, als die sogenannten Funkzellenabfragen in Berlin bekannt wurden. Die Polizei erschließt bei einem Verdacht auf schwere Straftaten nach richterlicher Anordnung Mobilfunkverbindungsdaten innerhalb bestimmter Sendegebiete. Da dies in Ballungsräumen Millionen Handynutzer treffen kann, muss man vor dieser Enthüllung erschauern? Würde man das rechtsstaatliche Prinzip der Verhältnismäßigkeit derart absolut setzen, kann man so nur noch auf vorpommerschem Ackerland nach Tätern fahnden. Auch bewegt sich die Grundrechtsbelastung Unbeteiligter in der Klasse Fliegengewicht. Wenn wir unsere Empörungskräfte an solche Kleinigkeiten verschwenden, kann es daran liegen, dass uns die Missstände auszugehen drohen.

Jost Müller-Neuhof, Korrespondent des Tagesspiegel und Dozent für Rechtskommunikation an der FU.
Jost Müller-Neuhof, Korrespondent des Tagesspiegel und Dozent für Rechtskommunikation an der FU.

© Kai-Uwe Heinrich

Vielleicht ist dieser Mangel auch der einzige, der die Revolution vorantreibt und diesbezüglich Sinn stiftet. Denn ansonsten haben wir es wohl eher mit Überflussphänomenen zu tun. Die Ubiquität von Informationen klärt manches Problem vielleicht, vor allem aber wird sie selbst zum Problem. Deutlich wird das an der Diskussion um das Urheberrecht. Glaubt man dem vielstimmigen Chor im Netz, dann wäre mit einer großen Reform das Internet befreit, einer „Kultur des Teilens“ der Weg geebnet. Die Unterhaltungs- und Informationsindustrie müsse sich dazu nur neuen Distributionsmöglichkeiten öffnen und ihre Geschäftsmodelle variieren, gleichrangig mit Anbietern, die auf den herkömmlichen Kommerz verzichten wollen.

Eine schöne neue Welt, wenn sich Anbieter und Nutzer Recht und Gesetz dabei so verpflichtet fühlten wie Kriminalbeamte im Trojanereinsatz. Die Wirklichkeit sieht anders aus, die maximale Verfügbarkeit lähmt den Willen, sich zu beschränken. Von „herunterladen“ spricht kaum einer mehr, man „streamt“ und fühlt sich als eine Art Rundfunkteilnehmer, freilich ohne Bewusstsein fürs Gebührenzahlen. So festigt sich der Eindruck, es gehe vielen, die das große Wort von der Freiheit im Munde führen, eher um den bequemen und günstigen Konsum von Unterhaltungsangeboten. Auch passt die hehre Rede vom „Teilen“ schlecht in die Gegenwart der Netznutzung. Das Wesen des Teilens ist der Verzicht; es erhöht den Gebenden, sorgt dafür, dass beide mit der Hälfte vom Ganzen glücklich sind und bürgt für künftige altruistische Kreisläufe. Mit der digitalen Option unendlicher Verbreitung und Multiplikation hat sich dieses kulturelle Moment erledigt. Unterhaltung im Netz ist vielfach ein unmoralisches Angebot, das typischerweise auf Jugendliche und Heranwachsende besonders einladend wirkt. Niemand muss mehr dankbar sein, niemand sich schuldig oder gar verpflichtet fühlen.

Wem es gefällt, der mag das Freiheit nennen. Es bringt einen aber schon ins Grübeln, weshalb sich die Netzpolitik ausgerechnet dem Projekt Urheberrecht verschrieben hat. Mit dieser zutiefst bürgerlichen und demokratischen Schöpfung wurden einst Kunst und Kultur (heute sagt man auch: Unterhaltung) aus dem höfischen Feudalbetrieb herausgelöst und für das breite Volk verkehrsfähig gemacht. Natürlich ist eine Branche entstanden, in der es Absahner und Ausgenutzte gibt, wie überall. Aber es wäre eine Illusion, Kunst, Unterhaltung oder auch Fortschritt und Wissen vom Kapital trennen zu können. Die Qualität kommt zum Geld, sei es vom Staat oder von Privaten, oder es ist andersherum. Dass man heutzutage auch über das Internet berühmt werden oder erfolgreich sein Produkt vertreiben kann, bricht dieses Prinzip nicht, sondern ergänzt es. Daran muss sich das Recht anpassen, mehr muss es nicht. Die Politik darf deshalb auch etwas mutiger sein, wenn sie ihre Vorhaben verteidigt. Dazu gehört das internationale Handelsabkommen Acta, das deutsches Recht bestätigt und in anderen Ländern vergleichbare Standards sichern will. Leben wir hier wirklich so unfrei und wollen nicht, dass jetzt andere Staaten auch unter diese Knute kommen?

Die Acta-Proteste sind faszinierend, ebenso die rauschhafte mediale Politisierung von Millionen Usern, etwa mit dem suggestiven Video über den ugandischen Kriegsverbrecher Joseph Kony oder effektvollen Anti-Acta-Produktionen, die das Abkommen und seine Anliegen zur Weltverschwörung verzerren. Das Internet ist als Medium der Massenkommunikation erst ein paar Jahre alt. Jetzt erscheint es in seiner vollen Pracht. Wer möchte, kann sich aus diesem Baukasten ein Weltbild zusammenbasteln, das alle Vorurteile, alle Hybris und das eigene grandiose, privilegierte IchSein auf das Gerechtfertigtste herausstellt: eine verewigte Pubertät. Niemand wird gezwungen, sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen. So ermöglicht es unendliche Vielfalt und zugleich radikale Selektivität, Aufklärung und Kampagne.

Dazwischen unterscheiden und damit umgehen zu können, hat wenig mit Netzfertigkeit zu tun. Es stellt sich die alte Herausforderung, richtig von falsch und gut von böse trennen und die vielen Nuancen dazwischen erkennen zu können. Wir sehen, dass sich Piraten und Netzgeborene hier so schwertun wie alle anderen auch, dass sie tasten, sich irren, umkehren müssen und neu starten. Dass man dabei, wenn man einander überraschend begegnet, erschreckt, ist normal. Wir sind verunsichert, das lässt uns fürchten. In diesem Zustand erscheint einem der jeweils andere immer als Gespenst. Alle sehen Gespenster, überall.

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