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Benjamin Netanjahu.

© Reuters

Israel vor der Wahl: Land ohne Partner

Israel ist mehr denn je auf politische Verbündete angewiesen. Das sollte nach der Wahl endlich auch Benjamin Netanjahu einsehen.

Versetzen wir uns für einen Moment in die Lage eines israelischen Wählers: In einem Land von nur sieben Millionen Einwohnern darf, nein, muss er sich zwischen gut zwei Dutzend Parteien entscheiden, von denen immerhin noch fünfzehn einigermaßen gute Chancen haben, die Zweiprozenthürde zu reißen und Sitze im israelischen Parlament, der Knesset, zu erringen.

Etwa die Hälfte dieser Parteien sind reine Klientelgruppen wie „United Torah Judaism“, die nur von aschkenasischen, also ursprünglich aus Europa stammenden Ultra-Orthodoxen gewählt wird; „Schas“, die Vertreterin der sephardischen, also ursprünglich aus Nordafrika und dem Nahen und Mittleren Osten stammenden Ultra-Orthodoxen, die wiederum mit den aschkenasischen Ultra-Orthodoxen wenig zu tun haben wollen; „Hadasch“, eine arabisch-jüdische kommunistische Partei; „Balad“, die im Grunde eine Ein-Mann-Partei des israelisch-arabischen Politikers Azmi Bischara ist und ihr Programm als „sozialistisch-demokratisch“ definiert; eine Reihe weiterer kleiner arabischer Parteien, die sich – je nach Verhältnis der jeweiligen Politiker zueinander – zu einer gemeinsamen Liste zusammenschließen oder auch nicht; „Meretz“, die in den Hochzeiten des Osloer Friedensprozesses der Juniorpartner der Rabin-Regierung war und jetzt nur noch eine schrumpfende Klientel alternativer und friedensbewegter Tel Aviver mobilisieren kann; „Yesh Atid“, („Es gibt eine Zukunft“ – in keinem anderen demokratischen Land finden Politiker dermaßen pathetische Namen für ihre Parteien wie in Israel) wiederum wurde nur gegründet, um dem Einfluss der Ultra-Orthodoxen auf das tägliche Leben in Einhalt zu gebieten.

Keine dieser Parteien besitzt ein Programm, das über ein Spezialanliegen oder die Interessen einer ganz bestimmten Gruppierung hinausgehen würde. Sie sind Mehrheitsbeschaffer im israelischen Koalitionszirkus, Beiboote, die sich ohne Vertäuung an eines oder gar mehrere größere Parteischiffe gar nicht erst in die wilden Wasser der Politik wagen könnten. Die Chefruderer dieser Politjollen aber benehmen sich häufig, als trügen sie die breiten Streifen eines Admirals am Ärmel.

In einem Land wie Israel, das eine notorisch lebendige Streitkultur pflegt, wäre das vielleicht nicht weiter tragisch, verfügten wenigstens die großen Schiffe über gut verfugte Planken, feste Anker und Kapitäne, die mit klarem Kurs solch eine Koalitionsflottille über die raue See zu steuern wüssten. Doch weit gefehlt. Auch die Parteien, die nach derzeitigen Umfragen über zehn Prozent liegen (was in Israel schon als beeindruckend gilt), sind Patchwork ohne überzeugendes Programm. Der rechte – und wirtschaftspolitisch geradezu thatcheristische – „Likud“ von Benjamin Netanjahu hat sich jüngst mit der bei den russischen Einwanderern beliebten Partei „Israel Beitenu“ („Unser Haus Israel“) des ehemaligen Außenministers Avigdor Liebermann zusammengetan, gegen den derzeit wegen Betrugs und Vorteilsnahme ermittelt wird.

Netanjahus großes Thema des vergangenen Jahres, nämlich ein Stopp des iranischen Nuklearprogramms womöglich auch mit militärischen Mitteln, hat er allen gegenteiligen Ankündigungen zum Trotz in diesem Wahlkampf kaum mehr bedient. In der Frage, was er denn mit den Palästinensern anzufangen gedenke, bleibt er undeutlich. Zu einer Zwei-Staaten-Lösung hat er sich wohl bekannt, aber nur in einer Rede, die er schon vor mittlerweile zwei Jahren gehalten hat. Verhandlungen will er „ohne Vorbedingungen“ führen, was nichts als ein uralter Trick aus der Diplomatenkiste ist, denn es bedeutet: Was bisher auf dem Tisch lag, wie das Angebot des ehemaligen Premiers Ehud Olmert von 2008, Jerusalem zu teilen und sich aus 98 Prozent der West Bank zurückzuziehen, gilt als abgeräumt. (Nun gut, der palästinensische Präsident Machmud Abbas hatte ohnehin abgelehnt.) Auch einen Siedlungsstopp als Vorbedingung für Gespräche hält er für nicht akzeptabel.

Bildung einer neuen Regierung

Chaosforscher bei der Arbeit.
Chaosforscher bei der Arbeit.

© Karikatur: Reiner Schwalme

Dass Netanjahu auch mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt wird, ist so ziemlich das Einzige, was in diesen Wahlen als sicher gelten darf. Trotz sinkender Tendenz steht der Likud in Umfragen der Zeitung „Haaretz“ derzeit bei 32 Prozent der Stimmen. Doch mit wem wird er nach der Wahl am kommenden Dienstag in Gespräche eintreten? Mit der „Arbeiterpartei“ („Avoda“), dieser alten Dame der israelischen Politik, deren wichtigste Politiker sich aber während der vergangenen Jahre aus der Politik verabschiedet oder (da haben wir’s wieder) neue Parteien gegründet haben? Unter der Führung von Shelly Jachimowitsch könnte sie mit derzeit 17 Prozent zweitstärkste Kraft werden; Verhandlungen will sie, vielleicht sogar einen „Endstatus“, ohne aber erklären zu können, wie sie das in der derzeitigen Situation bewerkstelligen will.

Zur Verfügung stünde auch „Kadima“ („Vorwärts“ – wer nennt eine Partei heutzutage noch „Vorwärts“?), die 2005 als Sammelbecken unzufriedener Politiker aus Likud und Avoda entstanden ist und in der „Friedensfrage“ wenigstens Olmerts Plan von 2008 auf den Tisch legen kann – aber sonst nicht viel zu bieten hat. Einzubinden wäre theoretisch jedenfalls auch „HaTnuah“ („Die Bewegung“) von Zipi Livni, nur wenige Monate vor dieser Wahl gegründet, nachdem Livni aus Kadima hinausgedrängt worden war. In den Umfragen liegt sie bei recht stattlichen acht Prozent. Das Verhältnis der ehemaligen Außenministerin Livni zu Netanjahu gilt allerdings – und das ist eine Untertreibung – als völlig zerrüttet. Auch Livni will am Olmert- Plan anknüpfen, zeigt ansonsten aber nicht viel politisches Profil, außer einer eher kuriosen und erst vor kurzem entdeckten Liebe für alternative Energie, die sie wiederum mit Shelly Jachimowitsch teilt. All diese Parteien, Neugründungen und Abkömmlinge sind irgendwie Mitte-halblinks, irgendwie an Verhandlungen mit den Palästinensern interessiert, doch ohne genau zu wissen, wie man den Karren wieder aus dem Dreck ziehen kann oder ob im derzeitigen, völlig durcheinandergeschüttelten Nahen Osten ein umfassendes Friedensabkommen überhaupt machbar ist.

Naftali Bennett ist der "Kai aus der Kiste" dieser Wahl

Die große Frage aber unter Wählern wie Kommentatoren ist: Wie wird sich Netanjahu zum „Kai aus der Kiste“ der israelischen Politik, dem Chef der nationalreligiösen Partei „Ha Beit haJehudi“ („Das jüdische Haus“) verhalten? Noch nie war die politische Interessensvertretung der Siedler so prominent wie unter Leitung des IT-Millionärs Naftali Bennett, der selbst gar nicht in einer Siedlung lebt. (Derzeit liegt Ha Beit Ha Jehudi bei 14 Prozent.) Noch nie hatte sie einen solchen Anstrich von Flottheit und Modernität – obgleich Bennett politisch nichts anderes bietet als einen ganz alten Aufguss, der wirkt, als sei er per Zeitmaschine aus den Prä-Oslo-Zeiten in das 21. Jahrhundert gebeamt worden. Annexion der sogenannten Gebiete C in der West Bank, über die Israel immer noch die volle Souveränität ausübt, und eine palästinensische „Autonomie“ für den Rest der Gebiete ist Bennetts Plan. Als ob die Palästinenser, die soeben eine schmetternde Anerkennung für einen Staat in den Vereinten Nationen erhalten haben, sich noch mit solch halbgaren Angeboten zufrieden geben würden.

Da steht er nun, der israelische Bürger, und weiß: Was auch immer er wählt und wie auch immer er wählt – taktisch eine der Großen, um die Kleinen zu schwächen, oder eine der Kleinen, um seine Partikularinteressen vertreten zu sehen; eine der säkularen Mitte-Parteien, weil er doch noch interessiert ist an der Fortführung der Verhandlungen mit den Palästinensern oder eher illusionslos und deshalb rechts: Er wird keinen Einfluss mehr auf die Zusammensetzung der Koalition haben. Er wird eine Regierung bekommen (gleich, in welcher Zusammensetzung), die ihm keine echte Antwort auf die wirklich wichtigen Fragen geben kann. Und an der Spitze wird ein Mann stehen, der über einen großen Vorteil und einen eklatanten Nachteil verfügt: Nach Jahrzehnten, in denen die Diskussionen um den Friedensprozess das Land fast zerrissen hat, nach zahlreichen Neuwahlen und Regierungskoalitionen, die weit vor Ende der Legislaturperioden auseinanderbrachen, hat Netanjahu ein politisches Kunststück im Flohzirkus der israelischen Parteienlandschaft vollbracht.

Seine Regierung hielt fast vier Jahre durch. Das ist eine für Israelis geradezu unschätzbare Atempause von der Aufgeregtheit der vergangenen Jahre. Netanjahu ist einer der gewieftesten Politiker Israels, aber er ist, und das ist sein eklatanter Nachteil, ein Politiker bar jeglicher strategischen Vision, ja bar jeglichen strategischen Verständnisses. Dass sich die Verhältnisse mit den Aufständen in Tunesien und Ägypten, dem Bürgerkrieg in Syrien, dem Machtzuwachs der Islamisten allerorten für Israel grundlegend geändert haben, dafür braucht man kein Nahostexperte zu sein. Aber versteht Netanjahu auch, dass die strategischen Grundprinzipien für den Staat Israel schlichtweg nicht mehr gelten?

Israel kann keine der größten Bedrohungen mehr alleine bewältigen.

Seit seiner Gründung galt als oberste Maxime, dass der jüdische Staat in der Lage sein muss, jedes seiner Sicherheitsprobleme wenn nötig auch im Alleingang zu lösen. Nun aber kann Israel keine der größten Bedrohungen mehr alleine bewältigen. Verhandlungen über das Nuklearprogramm des Iran und den dazu nötigen Druck muss es mangels eigener Kanäle ganz den Europäern überlassen. Allen Großsprechereien Netanjahus zum Trotz ist dem israelischen Sicherheitsestablishment völlig klar, dass Israel für einen Militärschlag gar keine wirklich ausreichenden Mittel besitzt – die stehen nur den USA zur Verfügung. Dem Zerfall Syriens und der Gefahr, dass dort Islamisten an die Macht und in den Besitz eines recht ansehnlichen Arsenals chemischer Massenvernichtungswaffen gelangen können, muss es hilflos zusehen. Zum wichtigsten Partner in der Region, nämlich Ägypten, unterhält Israel kaum mehr Kontakte. Die alten Netzwerke sind nach dem Sturz Hosni Mubaraks (und der schnellen Entmachtung des Militärs durch Ägyptens Präsident Mohammed Mursi) wertlos geworden. Und wenn die Muslimbrüder in Ägypten an einem nicht sonderlich interessiert sind, dann sind es Kontakte zum zionistischen Feind.

Der Aufgabe, eine Koalition zu bilden, wird Netanjahu ohne Zweifel gewachsen sein

Wer in diesem entscheidenden Jahr 2013 Premierminister Israels wird, hätte eine höchst verzwickte Aufgabe zu lösen. Er muss die Israelis beruhigen, die desillusioniert sind, schließlich wurde noch jede Friedensoffensive israelischer Regierungen von der palästinensischen Seite abgelehnt. Und der Rückzug aus Gaza 2005, dem dann die Wahl der Hamas folgte, die sich seither fest etabliert und ihre wichtigsten politischen Feinde eliminiert hat, ist auch nicht gerade ein ermutigendes Signal für weitere Rückzüge. Er müsste dennoch die Zwei-Staaten-Lösung erhalten – denn ohne eine faire Trennung von den Palästinensern wird es in Zukunft auch keinen demokratischen Staat mit einer klaren jüdischen Mehrheit geben. Dazu müsste er die Siedlerlobby in Schach halten, die sich aber seit über 40 Jahren fest in das politische System Israels eingefressen und mit Naftali Bennett einen ihrer charismatischsten Vertreter gefunden hat (eine Koalition mit Bennett schlösse sich schon aus diesem Grund aus).

Er muss selbstverständlich die Interessen Israels vertreten, oder präziser, er müsste in der prekärsten Lage, in der Israel seit Staatsgründung ist, Israels Interessen erst einmal genau definieren können. Aber es muss ihm auch klar sein, dass Israel mehr denn je Verbündete und Partner braucht, um das Iranproblem zu lösen, den Friedensvertrag mit Ägypten zu bewahren, Hilfe zu erhalten, wenn Syrien zerfallen sollte. All diese Partner werden vor allem einen Anspruch stellen: Dass die neue Regierung sich bewegt, dass sie, allen äußeren Schwierigkeiten zum Trotz, Wege aus der verfahrenen Situation mit den Palästinensern aufzeigt. Und keiner dieser Partner bringt noch große Geduld mit israelischer Ideenlosigkeit, Verzögerungstaktiken oder Plänen aus der Mottenkiste auf.

Der Aufgabe, eine Koalition zu bilden, wird Netanjahu ohne Zweifel gewachsen sein. Einzusehen, dass Israel Partner braucht, das dürfte die derzeit wichtigere, aber für Netanjahu allemal sehr viel schwerere Aufgabe sein.

Die Autorin ist Historikerin und Chefredakteurin der Zeitschrift "Internationale Politik" (IP).

Sylke Tempel

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