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Meinung: Jazz in der Badewanne

Roger Boyes, The Times

Einer der Flüche des Internets ist, dass es viel zu leicht ist, das Alter eines Unbekannten herauszubekommen. Wenn man die 50 überschritten hat, ist die Versuchung groß, ein oder zwei Jahre wegzulassen. Das öffentliche Image eines 46Jährigen entspricht dem einer dynamischen Person, der noch alle Möglichkeiten offen stehen. Wenige Jahre später schaut er (oder sie) schon in die Schaufenster, in denen orthopädische Verbände und elektrische Heizdecken angeboten werden.

Die Verlage haben nun Google entdeckt und ihre Marketingstrategien angepasst. Als Ergebnis erhielt ich statt des Rezensionsexemplars der neuen Britney-Spears- Autobiografie eine Ausgabe des neuen Hartz-IV-Kochbuchs, eine halb satirische Sammlung von Rezepten für diejenigen, die wackelnde Zähne und leere Taschen haben. Der Postbote zog eine Grimasse, als ich das Paket vor seinen Augen aufriss: „Herr Boyes, essen Sie so was?“ fragte er, als wir beide ein Rezept für Möhrencurry mit Rosinen lasen. „Ich dachte, Sie sind Fleischfresser.“ Ich erinnere mich noch an Zeiten, als Postboten mehr Respekt hatten.

Es wäre gut, mit manchen Vorurteilen über das Alter aufzuräumen. Die über 60-Jährigen werden normalerweise als nutzlos angesehen, weil sie nicht mehr Teil der Arbeitswelt sind. Aber viele Schulabgänger werden schon Glück haben, wenn sie in ihrem ganzen Leben 25 Jahre arbeiten dürfen. Die Frustration des aktiven Rentners kam vergangene Woche im Prozess gegen die Opa-Gang ans Tageslicht. Ein 74-Jähriger, ein 73-Jähriger und ihr junger Lehrling, ein 64-Jähriger, haben mithilfe von Handgranaten-Attrappen mindestens 14 Banken in Westfalen ausgeraubt. „Es ist unglaublich, wie einfach es ist, eine Bank zu überfallen, wenn man es zweimal gemacht hat“, sagte der 73-Jährige, der sich von seinem Anteil einen Hof in Bielefeld gekauft hatte.

Auch wenn es nicht nett ist, Banken auszurauben, konnte ich nichts gegen das Gefühl der Sympathie für die Opa-Räuber tun (wenn auch weniger für den 64-Jährigen, Jugendkriminalität sollte mit der ganzen Härte des Gesetzes geahndet werden). Letztlich hatten sie ja für das Recht gekämpft, auch im Alter noch etwas Spannendes zu erleben.

Um dieses Thema weiterzuentwickeln, bin ich mit meinem Freund, dem Musikwissenschaftler Joshua Steinfeld, zu einer Session der Jazzswingers gegangen. Die treffen sich einmal im Monat im Preußischen Landwirtshaus nahe dem baldigen Samsung-Hitler-Olympiastadion. Die Kneipe war voll mit Jazzfans, die noch älter als ich waren und den Aufnahmen von Ehepaaren im Jazzgeschäft lauschten – George Treadwell und Sarah Vaughn („I’ve got a crush on you“), Dave Barbour und Peggy Lee („I don’t know enough about you“), Red Norvo und Mildred Baily („I’ve got my love to keep me warm“). Dann gab es ein Livekonzert. Der riesige schwarze Saxophonist mit dem runden Hut war in meinem Alter. Er war sehr gut, musste sich aber nach jedem Stück hinsetzen und hechelte dann wie ein Hund am Strand. In der Pause fragten Josh und ich die Fans, wie sie zum ersten Mal Jazz in Berlin erlebt hatten.

Eine Frau, Jahrgang 1935, hörte AFN bei den Hausaufgaben. Eine andere, Jahrgang 1936, war als 17-Jährige zu den Funkturm-Konzerten gegangen. Einige hatten sich bei Hot-Jazz-Sessions in der „Badewanne“ oder der „Eierschale“ verliebt. Ihre Augen leuchteten vor vergangenen Freuden, und ich habe etwas über das Nachkriegsberlin erfahren. Das waren versehrte Kinder, die viele Nächte in Schutzräumen verbracht hatten und ohne Vater aufgewachsen waren. Die amerikanische Besetzung – über Franzosen und Briten hörte ich nicht denselben sentimentalen Enthusiasmus – gab West-Berlinern zum ersten Mal ein Gefühl für Spaß, ein Gefühl für das angenehme Leben. Die Fans von der preußischen Kneipe wollten etwas von diesem Spaß zurückhaben. Nicht, um Banken auszurauben, aber um mit den Füßen zu wippen und die Finger in einem Rhythmus zu schnipsen, der an die Zeiten erinnert, als es noch keine Hartz-IV-Flüchtlinge gab. In einer Nacht im Monat können sie noch mal cool sein.

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