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Meinung: Jetzt sind wir dran

Der Kanzler meint uns – denn weitere Trägheit kommt den Staat teuer zu stehen

Wie gut, dass wir den Kanzler haben. Da müssen wir nicht so viel darüber nachdenken, wie gut eigentlich wir sind. Wie mutig, dynamisch, flexibel, entschlossen, kraftvoll, sozial, solidarisch. Da lassen wir uns doch gerne mal ablenken von einer Rede. Aber der Kanzler hat es ja nicht anders gewollt. Jetzt wissen wir mehr und wir fragen: War das schon alles? Oder sagen: Das ist des Schlimmen zuviel. Und meinen immer den Kanzler. Dabei geht es um uns.

Es gibt gute Gründe, daran zu zweifeln, dass wir gut genug sind, dem Land aus der Krise zu helfen. Uns fehlt der Mut, den wir von Schröder erwarten, wir sind nicht flexibel genug, aber fatalistisch, wir haben zu wenig zu bieten, wir wissen nicht, was wir wollen – und schon gar nicht, warum. Wir haben ein falsches Bild vom Begriff des Sozialen, und den Unterschied zwischen Solidarität und Subsidiarität, aber auch deren Zusammenhang haben wir nicht verstanden. Unser Motto: Wer sich zuerst bewegt, macht die nächste Runde klar.

Ein Berliner Arbeitsloser, der eine angebotene Stelle in Hannover als unzumutbar ablehnt, weil ihm dort sein gewohntes soziales Umfeld fehlt, hat unsere Solidarität im gewährten Umfang nicht wirklich verdient. Aber er kassiert weiter. Das ist unsozial. Ein Berliner Arbeitnehmer, dem die Kündigung droht, aber die Vermittlung einer neuen Stelle durch den alten Arbeitgeber bei gleicher Bezahlung in derselben Stadt ablehnt, ohne auch nur einen Vorstellungstermin zu vereinbaren, ist: entweder feige, unflexibel, fatalistisch, bequem oder einfach nur renitent. Er wird bald als neuer Arbeitsloser die Zwangsabgaben anderer Arbeitnehmer in Anspruch nehmen. Das ist unsozial. Eine Gewerkschaft, die Lohnerhöhungen für einen Teil der Beschäftigten erzwingt und dafür Entlassungen in Kauf nimmt, handelt ebenfalls unsozial. Eine Hochschule, die öffentliches Geld für Projekte freigibt, von denen es nicht mal eine Idee gibt, die aber meint, damit einer guten Sache zu dienen, handelt verschwenderisch und verantwortungslos, erstickt jede Dynamik im Ansatz und verhindert einen kreativen Wettbewerb. Das ist doppelt unsozial.

Zu gut versorgt

Die Beispiele sind alle banal und beliebig, aber echt und bezeichnend. Überversorgung mit sozialen Systemen führt zu einer Entsolidarisierung innerhalb der Gesellschaft. Warum soll ich helfen, und sei es mir selbst, wenn der Staat das doch auch tut. Das ist bequemer, gewiss, aber doch nur scheinbar die billigere, andere Lösung. Diese Haltung kommt uns teuer zu stehen, wie jeder, der Arbeit hat, mit einem Blick auf seine Gehaltsabrechnung feststellen kann. Unsere Trägheit, unsere vermeintliche Unzuständigkeit kostet uns die Differenz zwischen Brutto und Netto. Denn der Staat, das sind wir. Ist das nicht komisch?

Der Solidargedanke hat sich ins Bizarre verkehrt. Es geht längst nicht mehr darum, dass nur in der Not der Staat helfend eingreift. Wir halten den Staat für unser Wohlergehen grundsätzlich zuständig: bei der Kindererziehung, bei persönlichen und beruflichen Schicksalsschlägen, im Alter. Aber das ist er nicht, das kann er gar nicht sein. Weil wir uns das im wahrsten Sinne des Wortes nicht leisten können.

Wir fördern, unterstützen und beachten zu wenig jene Menschen, die sich selbst und anderen zur Seite stehen, sei es in Selbsthilfegruppen oder ehrenamtlichen Projekten, sei es im Freundeskreis oder in der Familie. Auf der anderen Seite lassen wir diejenigen zu sehr gewähren, die ohne echte Not eine staatliche Leistung in Anspruch nehmen. Wir haben Angst, als unsozial zu gelten, wenn wir da moralischen Druck ausüben, uns einmischen, eingreifen. Wir tun so, als ginge uns das nichts an. Aber unsozial verhalten sich jene, die es als selbstverständlich ansehen, dass andere für sie bezahlen. Das gilt auch für die Leistung der Krankenkassen und der Bundesanstalt für Arbeit. Wer einen Versicherungsbeitrag leistet, erwirbt dadurch nicht den Anspruch auf eine möglichst vollständige Rückzahlung plus Zinsen. So funktioniert das System nicht, aber das ist viel zu wenigen Menschen bewusst.

Jetzt sind wir dran. Der Kanzler hat ohne uns keine Chance. Egal, wie er heißt.

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