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Meinung: Kalter Krieg am Ku’damm

Roger Boyes, The Times

Ärzte liegen fast immer falsch. Wenn man lange genug lebt, dann unterstützt die medizinische Wissenschaft fast immer die Selbstdiagnose des mündigen Patienten statt die übervorsichtige Schulmedizin. Die Welt ist voller 80jähriger Trinker und Raucher. Genauso sieht es beim Eis aus. Jahrzehntelang wollte man uns weismachen, dass Speiseeis ein hochkalorisches Killer-Nahrungsmittel ist. Alberto Pica hat jedoch ein sehr nützliches Handbuch geschrieben, in dem er die Ernährungsqualitäten guten „gelatos“ auflistet. „Es ist nicht nur ein exzellenter Stimmungsaufheller, ein natürliches Antidepressivum – es ist auch ein vollwertiges Lebensmittel, das eine Mahlzeit ersetzen kann.“ Im Milcheis gibt es mehr Milchproteine als in Milch; Kalzium, Vitamin A und D sind auch darin.

Nun, Signor Pica ist der Präsident der italienischen Speiseeisvereinigung, vielleicht ist er also nicht objektiv. Aber ich glaube ihm: Eis ist genauso ein Bestandteil der gesunden Mittelmeer-Diät wie Olivenöl und Knoblauch. In der „Gelateria“ beginnen italienische Kinder ihr soziales Leben. Manchmal denke ich, bei ihnen wird die Muttermilch direkt vom Pistazieneis abgelöst.

In ganz Europa gibt es einen Kulturkampf zwischen gutem und billigem Eis. Dieser Kampf wird nun auch in Berlin geführt – am Ende des Ku’damms Richtung Halensee. Dort haben Martin und Ines direkt gegenüber der West-Berliner Institution Eis-Hennig ihr „Eisgrün“ eröffnet – ein Café, das auf Natureis spezialisiert ist. Es ist, so könnte man sagen, der Beginn eines kalten Krieges.

Eis-Hennig mit seinen bis zu zehn Filialen wird seit etwa 55 Jahren als Familienbetrieb geführt. Wie Florida-Eis in Spandau kam es in den Wirtschaftswunderjahren in Mode, als Berliner plötzlich Zeit hatten, ein wenig mehr Geld und Lust auf Süßes. In jenen Tagen waren die Leute bereit, für ein gutes Eis quer durch Berlin zu fahren. Erdbeereis mit Sahne war der logische Abschluss eines Sonntagsausflugs. Am Nachmittag wurde Eis-Hennig Teil der Halenseer Subkultur: Die Unterwelt-Figuren, die sich bei Franky’s Currywurstbude herumtrieben, schickten ihre jüngeren Freundinnen zur Eisdiele, während sie die Details eines Juwelenraubes besprachen. Heute ist Eis-Hennig eine Zwischenstation für laute Teenager auf ihrem Weg zu einem Club. Das Eis ist billig und süß, aber für meinen Geschmack zu stark mit Luft und Aromastoffen versetzt.

Das ist also die Wahl: Proleteneis gegen Natureis. Das Natureis, welches von einem Italiener handgemacht und geliefert wird, besteht zur Hälfte aus Frucht und zur Hälfte aus Milch, ohne Zusatzstoffe. Die Auswahl ist experimenteller als bei Hennig – Lakritze etwa oder Apfelkuchen (halb Kuchen, halb Milch). Ich wäre noch glücklicher, wenn sie einige der Rezepte von Bibi Morelli ausprobieren würden, der einen Eisladen bei Harrods führt: Gorgonzola mit Honig etwa oder Parmesan und Birne. Die meisten dieser Geschmacksrichtungen scheinen für schwangere Frauen entwickelt worden zu sein. Für Halensee sind sie vielleicht noch ein wenig zu radikal.

Vor ein paar Tagen konnte man eine Gruppe von Feuerwehrleuten beobachten, die darüber diskutierten, ob sie zu Eis-Hennig oder zu Eisgrün gehen sollten. Am Ende einigten sie sich auf Eisgrün (was mit dem brennenden Haus passierte, weiß ich nicht). Weder Hennig noch Eisgrün leiden unter dieser Konkurrenz. Im Berliner Sommer boomt das Eisgeschäft und es ist genug Geld für alle da. Andere Wirtschaftszweige in Berlin haben dieselbe Entwicklung durchgemacht: konkurrierende italienische Restaurants, die direkt nebeneinander liegen, die Antiquitätengeschäfte in der Suarezstraße, die chinesischen Massagecenter in der Kantstraße. Aber dies ist das erste Mal, dass es in solch einer sensiblen Branche wie dem Eisgeschäft passiert: Es verändert den Geschmack der Berliner, erweitert die Wahlmöglichkeiten und generiert Profite. Könnte es sein, dass der kapitalistische Geist in dieser Stadt Fuß fasst?

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