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Meinung: Keine Gleichung ohne Arbeit

Es gibt keine gezielte Umverteilung von unten nach oben. Wer mehr Einkommensgleichheit will, muss den Armen Jobs geben

Seit Wochen wird an dieser Stelle über die notwendigen Reformen in Deutschland nachgedacht. Letzten Sonntag wurde hier kräftig schwarz gemalt. Und drei Seiten davor kam im Innenpolitik- Teil der Münchener Soziologieprofessor Ulrich Beck zu Wort, der glaubt, uns ginge die Erwerbsarbeit aus – weswegen er immer wieder seine Reformagenda mit dem Vorschlag eines „Bürgergeldes“ für jede Frau und jeden Mann anreichert. Er übersieht dabei, dass es das mit der Sozialhilfe schon gibt. Die ist nicht üppig, aber im internationalen Vergleich ordentlich. Und Becks Bürgergeld wäre – wenn es bezahlbar sein soll – auch nicht höher.

Ein weiteres Beispiel dafür, dass genau hinschauen und rechnen muss, wer beurteilen will, welche Umverteilungen im Moment vor sich gehen – von unten nach oben, von der Mitte nach unten? – und welche Änderungen möglich sind. Das Bild, das sich dann ergibt, ist kompliziert. Vor allem reicht es nicht aus, nur einen Ausschnitt zu betrachten. Um belastbare Aussagen über die Umverteilung – das Hauptthema des Essays am vergangenen Sonntag – zu machen, muss man auf Statistiken über Personen und Privathaushalte zurückgreifen. Eine rein makroökonomische Betrachtung greift zu kurz. Denn zum Beispiel rein rechnerische Vermögenszuwächse durch steigende Aktienkurse werden von den meisten nicht als Einkommen realisiert. Und der Zuwachs kann sich rasch in ein Minus verwandeln – das freilich auch nicht realisiert wird, solange der Besitzer die Aktien liegen lässt. Ebenso kann man viele Unternehmensgewinne nicht in die Einkommensverteilung einbeziehen, sie verbleiben bei den Unternehmen und kommen niemals auf den Konten von Privathaushalten an.

Klar ist freilich auch: In allen Statistiken des privaten Haushaltssektors fehlen die „Superreichen“: die Milliardäre. Weil es so wenige davon gibt. Über sie lassen sich keine wissenschaftlichen Aussagen treffen. Aber es sind, wie gesagt, sehr wenige. Selbst wenn man sie enteignen wollte, würde das Geld nicht lange reichen, um Umverteilung zu betreiben. Insofern ist es zwar beklagenswert, dass wir über diese Gruppe so wenig wissen. Aber ihr Fehlen im statistischen Bild fällt – wenn man ehrlich ist – auch nicht sonderlich ins Gewicht. Die viel größere Gruppe der „normal Reichen“ wird dagegen erfasst.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) hat in seiner Längsschnittstudie „Sozio-oekonomisches Panel“ (SOEP) eine aussagekräftige statistische Datenbasis erarbeitet. Sie ermöglicht, nicht nur die Verteilung der bedarfsgewichteten Pro-Kopf- Einkommen nach sozialen Gruppen zu analysieren, sondern auch das Auf- und Absteigen von Einkommen nachzuzeichnen. Für die verfügbaren Einkommen spielen nicht nur die Erwerbseinkommen, sondern auch Transferzahlungen, wie zum Beispiel die Rente, eine Rolle.

Seit dem Jahrtausendwechsel ist aufgrund der schwachen Konjunktur und der gestiegenen Arbeitslosigkeit das Realeinkommen des untersten Fünftels der Haushalte um etwa drei Prozent gesunken. Aber schon das Realeinkommen der nächsthöheren Gruppe in der Einkommensschichtung ist um zwei Prozent gewachsen – während freilich das Einkommen des reichsten Zehntels um etwa zehn Prozent gestiegen ist. Allerdings ist dieses Auseinanderdriften der Einkommen in den Jahren des Abschwungs erwartbar – auch im internationalen Vergleich. Sie ist nicht das Werk böser Umverteilungspolitiker.

Aus dem kurzen Zeitraum seit 2000 kann man vor allem nicht schließen, dass wir es in der „Berliner Republik“ mit einem gesellschaftlichen Prozess ständig steigender Ungleichheit zu tun hätten. Um eine Trendaussage machen zu können, muss man den aktuellen Tiefpunkt in der Konjunktur mit dem davor liegenden Tief (und nicht der Hochkonjunktur) vergleichen. Das war 1995 – und plötzlich sieht das Bild völlig anders aus. Im Vergleich zu 1995 ist das Realeinkommen der Ärmsten um neun Prozent gestiegen und das der nächsten Gruppe um 13 Prozent. Die Einkommen der Begüterten sind zwar mit über 15 Prozent noch stärker gestiegen, aber insgesamt hat sich das Maß an Ungleichheit in Deutschland seit 1995 kaum verändert.

Zur Bewertung gibt es den so genannten „Gini-Koeffizienten“, der bei völliger Gleichheit den Wert Null und bei totaler Ungleichheit den Wert 100 annimmt. Danach liegen wir in Deutschland unter dem Wert 30, also viel näher an absoluter Gleichheit als absoluter Ungleichheit. Auch im Europavergleich liegt Deutschland nach wie vor im unteren Bereich der Ungleichheit. Zwar gibt es in anderen Ländern Mindestlöhne und Mindestrenten, die sind aber in der Regel so niedrig, dass sie im Vergleich zur Einkommenssituation in Deutschland nicht wirken.

Damit soll keineswegs bestritten werden, dass es in Deutschland Einkommensarmut gibt – gerade bei jungen Familien mit Kindern ist sie besonders hoch und skandalös. Folgt man der EU und bezeichnet denjenigen als „einkommensarm“, der weniger als die Hälfte des Durchschnitts der bedarfsgewichteten Pro-Kopf-Einkommen zur Verfügung hat, liegen wir im Moment bei etwa 12 Prozent. Auch diese Armutsquote ist im internationalen Vergleich nur in den skandinavischen Ländern und den Niederlanden niedriger. In den USA ist etwa jeder Fünfte einkommensarm.

Noch wichtiger: Es stimmt nicht, dass mit der größeren Ungleichheit in den USA – oder in Großbritannien – auch größere Chancen verbunden sind, sich nach oben zu verändern. Im Gegenteil: Die Einkommensmobilität ist dort niedriger als in Deutschland.

Betrachten wir zum Beispiel die untere Mittelschicht in Deutschland: Seit 1995 ist knapp ein Drittel einkommensmäßig aufgestiegen – und nur ein Viertel in die Unterschicht abgesunken. Aus der Unterschicht der Einkommensbezieher kann es nur aufwärts gehen. Das ist 45 Prozent gelungen, einem Prozent gar bis in die oberste Einkommensschicht. Das liegt daran, dass zur untersten Einkommensgruppe auch Studenten gehören – und mit denen kann es in acht Jahren rasch auswärts gehen. Aus der oberen Mittelschicht sind seit 1995 gut zehn Prozent in die Gruppe der „Top Ten“ der Einkommensbezieher aufgestiegen, ein gutes Drittel ist abgestiegen. Dafür ist aber keineswegs allein Arbeitslosigkeit verantwortlich, sondern vor allem Ehescheidungen und Verrentungen.

Hinter beharrlicher Armut steht meist „Bildungsarmut“. Sie wird zu einem wachsenden Problem. Dagegen spricht nichts dafür, dass es durch die Hartz-Reformen zu einem drastischen Anstieg der Ungleichheit und Armut kommen wird. Denn am untersten Ende wird ja nicht gestrichen – die Sozialhilfe bleibt unverändert und für bislang arme Familien gibt es sogar einen Kinderzuschlag von bis zu 140 Euro pro Kind und Monat. Noch wichtiger ist, dass durch Hartz IV Langzeitarbeitslose nicht systematisch abgestraft werden sollen. Sondern das Ziel ist, dass weniger Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit hineingeraten.

Die Bundesregierung hätte sich ohne Zweifel leichter getan, wenn sie die Arbeitsmarkt-Reformen in ein schlüssiges makroökonomisches Konzept der Fiskalpolitik eingebunden hätte. Trotzdem sind die Reformen sinnvoll – auch wenn von vorneherein klar ist, dass sie nur begrenzte Wirkungen entfalten werden. Aber wenn die erzielt werden, wäre vielen Menschen geholfen.

Auch da muss man genau hinschauen. Die Bundesagentur für Arbeit will sich auf vier Problemgruppen konzentrieren: Jugendliche unter 25 Jahren, Alleinerziehende, Zuwanderer und ältere Arbeitslose. Einen weiteren Schwerpunkt – das sollte offen ausgesprochen werden – bilden Arbeitslose, die im Verdacht stehen, schwarz zu arbeiten und den Staat doppelt zu schädigen: durch den Bezug von Arbeitslosenhilfe und Schwarzarbeit.

Durch gezielte Angebote von Ein-Euro-Jobs werden schwarzarbeitende Transferempfänger sich entscheiden müssen, ob sie den Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt wollen oder lieber auf Arbeitslosengeld verzichten. Und für Langzeitarbeitslose mit Problemen wie Überschuldung oder Suchtkrankheit sind die Ein-Euro- Jobs eine echte Chance, zurück ins Erwerbsleben zu finden – sofern es den Arbeitsagenturen gelingt, diese mit sozialpädagogischen Maßnahmen zu verbinden, sodass Langzeitarbeitslose sich wieder an regelmäßige Arbeit gewöhnen.

Langzeitarbeitslosen Jugendlichen soll endlich konsequent geholfen werden, einen Einstieg in ein reguläres Erwerbsleben zu finden. Deswegen werden sie Job- und Praktikumsangebote erhalten, die eine Weiterqualifizierung beinhalten.

Zuwanderern, das heißt: nicht nur Ausländern, sondern auch vielen Spätaussiedlern und ihren Familienangehörigen, wird mit Sprachkursen geholfen werden, die gezielt die Kenntnisse vermitteln, die am Arbeitsmarkt gebraucht werden. Das Problem wird sein, qualifizierte Anbieter für solche Kurse zu finden. „Deutsch als Fremdsprache“ hat in Deutschland keine Tradition als Unterrichtsfach.

Alleinerziehende sind in Deutschland – im Gegensatz zum angelsächsischen Ausland – nicht niedrig qualifiziert, sondern sogar vielfach gut. Deswegen ist es richtig, dass die Arbeitsagenturen sich um Betreuungsplätze für die Kinder kümmern, obwohl für einen Krippenplatz – für Kleinkinder – formal kein Rechtsanspruch besteht. Dann finden gut qualifizierte Alleinerziehende fast allein den Weg in den Arbeitsmarkt. Die Bundesregierung hat es bislang auch nicht geschafft, deutlich zu machen: Allein erziehenden Müttern, die arbeitslos sind und Sozialhilfe beziehen, ist durch den bereits begonnenen Ausbau der Kinderbetreuung und mehr Ganztagsangeboten in Schulen mehr geholfen als durch höheres Kindergeld. Sozialtransfers können niemals so hoch sein wie das Einkommen, das durch einen Job fließt.

Schließlich werden Ein-Euro- Jobs älteren Arbeitslosen in Ostdeutschland – auch das sollte man offen sagen – faktisch als Dauerarbeitsplatz angeboten werden. Denn ein Aufschwung, der Ältere für Arbeitgeber wieder genügend attraktiv macht, ist nicht absehbar. Man kann aber die mittleren Jahrgänge, die zu den Verlierern der deutschen Vereinigung gehören, nicht ganz ohne sozial akzeptierte Beschäftigung lassen. Bei dieser Funktion der Ein-Euro-Jobs wird es besonders wichtig sein, dass sie reguläre Arbeitsplätze nicht verdrängen. Deswegen sollte bei einer Dauerbeschäftigung auch kein Zwang auf die älteren Menschen ausgeübt werden, einen solchen Job auszuüben. Denn dann würden Einrichtungen, die solche Jobs anbieten, bestimmt an anderer Stelle Arbeitsplätze abbauen. Und ganz wichtig: In den Beiräten bei den Arbeitsagenturen, die empfehlen, ob Projekte für Ein-Euro- Jobs geeignet sind, sollten die Träger solcher Projekte nicht vertreten sein. Denn sie wären an einer Flut von Ein-Euro-Jobs interessiert.

Insgesamt ist das Bild kompliziert und verwirrend. Es gibt Verlierer der Reformen, aber auch Gewinner – und keine gezielte Umverteilung von unten nach oben. Das eigentliche Problem dieser Reformen liegt darin, dass die vielen Details in keinen überzeugenden „Masterplan“ eingebettet sind. Zum Beispiel hat die – langfristig äußerst sinnvolle – Rentenreform die Kaufkraft geschwächt. Es wurde versäumt, durch eine parallele antizyklische Fiskalpolitik, etwa Investitionen in Bildung und Forschung, das gesamtwirtschaftliche Klima so zu verbessern, dass es im nächsten Jahr Langzeitarbeitslosen leichter fällt, tatsächlich einen Job zu finden. Aber vielleicht haben Regierung und Arbeitslose Glück und ein Konjunkturaufschwung kommt zur rechten Zeit. Dann stimmt das Reform-Paket durchaus – wenn es richtig erklärt und richtig vermittelt wird.

Zur Verunsicherung der Bürger trägt bei, dass einige Publizisten, Politiker und Verbandsvertreter zu Verbalradikalismus neigen. Doch weder eine Senkung der Sozialhilfe noch der Abbau des Kündigungsschutzes haben irgendeine politische Chance auf Verwirklichung. Wer es gut meint mit Deutschland, sollte mithelfen, dass Hartz IV Erfolg hat, zum Beispiel durch eine konstruktive Debatte zur Gestaltung der Ein-Euro- Jobs. Und wenn Hartz IV Langzeitarbeitslose ins Erwerbsleben zurückbringt, nimmt die Ungleichheit der Haushaltseinkommen automatisch ab.

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