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Meinung: Killervirus, Version 2.0

In New York wurde ein besonders aggressiver Aidserreger entdeckt

Alexander S. Kekulé Der Vergleich mit Sodom und Gomorrha ist tabu, weil er die Entdeckung des Aidsvirus lange verhindert hat – in den 80er Jahren glaubten USPräsident Ronald Reagan und andere „anständige“ Politiker, Aids sei eine reine Schwulenkrankheit, ausgelöst durch natur- und gotteswidrige Sexualpraktiken. Heute weiß jedes Schulkind: Die unheimliche Immunschwäche ist keine Strafe Gottes, sondern eine Infektionskrankheit. Aids wird durch ein Virus namens HIV übertragen. Kondome schützen.

Ein Teil der schwulen Großstadtszene von New York bis Berlin hat sich jedoch von diesen Binsenweisheiten verabschiedet. Nach Jahren der sexuellen Beschränkung und gebetsmühlenartigen Aufklärung sind sie der Todesangst müde geworden. Der letzte Schrei ist „Marathon-Sex“ mit kristallinem Methamphetamin. Weil das Aufputschmittel die Potenz mindert, gibt es zusätzlich Viagra in Höchstdosis. Die Marathon-Männer organisieren ihre Treffen über Chatrooms im Internet, zehn bis zwanzig Sexualpartner pro Nacht sind keine Seltenheit. Alles natürlich anonym und „bareback“ (engl.: ohne Sattel), das heißt ohne Kondom.

Aidsforscher beobachten das Treiben ohne moralische Wertung. Ein Virus kennt keine Moral, nur Wirtskörper, die es zu infizieren gilt. Die Melange aus Gesunden, HIV-Positiven und Aidskranken hilft ihm dabei.

Jetzt trat in New York jedoch eine neue Variante des HIV auf, die möglicherweise eine schon länger gehegte Befürchtung der Virologen bestätigt: Dass durch die häufigen Wirtswechsel ein neues, besonders aggressives Aidsvirus entstehen könnte.

Normalerweise befällt HIV in der Anfangsphase der Infektion hauptsächlich bestimmte Fresszellen (Makrophagen), was kaum zu Krankheitszeichen führt. Erst im Laufe von vielen Jahren lernt das Virus, auch in die für die Immunabwehr essenziellen T-Lymphozyten einzudringen. Weil es dafür den „CXCR4-Rezeptor“ benützt, werden diese aggressiven HIV-Typen „X4“ genannt. Bisher wurden die gefürchteten X4 fast ausschließlich bei Aids im Endstadium beobachtet. Da solche Patienten meist antivirale Medikamente bekommen und von ihrer Krankheit wissen, werden X4 nur sehr selten weitergegeben.

Es ist jedoch denkbar, dass ein Aidskranker nach jahrelanger Therapie ein HIV vom Typ X4 in sich trägt, das zusätzlich auch noch gegen alle antiviralen Medikamente resistent geworden ist. Wenn dieser Todgeweihte ungeschützten Verkehr hat, könnte das neue, doppelt gefährliche Virus eine zweite Aidsepidemie auslösen.

In New York ging vergangene Woche die Angst um, der Ernstfall sei bereits eingetreten. Bei einem Sex-Marathoniken trat innerhalb von nur drei Monaten nach der Infektion das Vollbild von Aids auf, was normalerweise etwa zehn Jahre dauert. In seinem Blut kreist ein HIV vom Typ X4, gegen das 19 der 20 verfügbaren antiviralen Medikamente unwirksam sind. Mit dem verbliebenen Mittel kann dem Mittvierziger voraussichtlich auch nicht geholfen werden, da Aidsviren schnell resistent werden, wenn keine Dreier- oder Viererkombinationen zur Verfügung stehen.

Die Kombination der Resistenz gegen Aidsmittel mit dem Typ X4 könnte ein seltener Einzelfall sein. Möglicherweise gibt es auch andere Gründe, warum bei dem New Yorker die Krankheit so schnell ausbrach. Erst in einigen Wochen wird klar sein, ob es ein Einzelfall oder das lang gefürchtete „Update 2.0“ des Aidsvirus ist.

Für die Risikogruppen auf beiden Seiten des Atlantiks ist die HIV-Variante jedenfalls eine deutliche Warnung, dass Aids auch mit den neuen Medikamenten seinen Schrecken nicht verloren hat. Das hat nichts mit sodomitischer Moral zu tun, im Gegenteil: Bei Aids ist Wegsehen tödlich.

Der Autor ist Institutsdirektor und Professor für Medizinische Mikrobiologie in Halle. Foto: J. Peyer

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