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Kindererziehung: Alles eine Frage der Dosis

Harald Martenstein ist es recht, wenn demnächst tüchtige Chinesen die Welt übernehmen. Hauptsache, er muss nicht 2000 Rechenaufgaben lösen.

Deutschland diskutiert, nach dem Ende des Dschungelcamps, über eine Chinesin. Die chinesisch-amerikanische Professorin Amy Chua hat ein Buch darüber geschrieben, wie sie ihre beiden Töchter erzogen hat, nämlich im typisch chinesischen Stil, den sie für besser hält als den westlichen Stil. Das Buch heißt: „Die Mutter des Erfolges. Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte.“ Ihre Kinder durften sich nie zum Spielen verabreden, Fernsehen oder auch Basteln waren tabu. Stattdessen wurde täglich vier Stunden lang Geige und Klavier geübt. Wenn die Mädchen ein Musikstück nicht perfekt spielten, drohte die Mutter damit, ihre Stofftiere zu verbrennen. Als eine der Töchter in einem Mathe-Wettbewerb nur Zweite wurde, hinter einer kleinen Koreanerin, musste sie fortan allabendlich 2000 Rechenaufgaben lösen, so lange, bis sie wieder die Nummer eins war. Chua sagt: „Chinesische Eltern verstehen, dass nichts Spaß macht, bis man gut darin ist. Um gut in irgendwas zu werden, muss man arbeiten. Kinder wollen von sich aus nie arbeiten.“

Die Ergebnisse der chinesischen Methode sind im Falle Chua zwiespältig. Die ältere Tochter trat bereits mit 14 Jahren als Pianistin in der Carnegie Hall auf. Die Jüngere bewirft ihre Mutter mit Geschirr und erklärt, die Mutter sei ein weitaus schlimmerer Charakter als Lord Voldemort, der Oberschurke in den „Harry Potter“-Romanen. Der Vater ist übrigens ein Autor und ein eher linker jüdischer Amerikaner, der sich aus dem häuslichen Drillprogramm heraushielt und fast immer mit dem Hund spazieren ging.

Ein bisschen was ist sicher dran an Amy Chuas Theorie, ganz ohne Leistungsdruck entfalten Menschen nicht ihre Talente. Es hängt, wie so oft, von der Dosis ab. Wenn man hin und wieder Wasser über den Kopf laufen lässt, dann nennt man dies eine „Dusche“. Falls man aber tagelang Wasser über den Kopf laufen lässt, dann lautet der Fachbegriff dafür „Wasserfolter“.

Bei der Lektüre der Rezensionen wurde mir wieder einmal bewusst, dass es im Leben manchmal schöner ist, zu den Verlierern zu gehören als zu den Gewinnern. Falls also demnächst tüchtige Chinesen die Welt übernehmen, dann soll es mir recht sein, Hauptsache, ich muss nicht 2000 Rechenaufgaben lösen und darf meine Stofftiere behalten. Die Chinesen werden es, in den praktischen Dingen, sicher gut machen. Die S-Bahn wird fahren. In Gestalt der Pädagogin und Blockflöten-Virtuosin Ursula Sarrazin hat China ja bereits eine Art Vorposten in Berlin errichtet. Wahrscheinlich hat sie das China-Gen. Wir anderen aber, die wir, nicht immer, aber hin und wieder ganz gerne schluffig sind, wir entern die Gorch Fock, taufen sie um in „Happy go lucky“, hissen die Piratenflagge und segeln in die Südsee.

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