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Kindesmissbrauch: Der vermeintlich Andere

Der Missbrauchstäter ist ein Faszinosum. An ihm reagiert sich die Gesellschaft ab – und vergisst so die Alltagsgewalt gegen Kinder. Ein Kommentar von Caroline Fetscher.

Von Caroline Fetscher

Längst gehört „der Kinderschänder“ zum Standardrepertoire nicht nur des Boulevards. Jedes Jahr produziert frische Exemplare dieses Typus. Während eben erst ein vorbestrafter Brandstifter den Missbrauch und die Ermordung des Mädchens Corinna gestanden hat, spekuliert die Presse über einen unbekannten Mittäter im Fall Natascha Kampusch und darüber, ob das inhaftierte „Inzest-Monster“ Josef Fritzl vom Vorjahr an Demenz leide. Am Montag dieser Woche vermeldet das größte Boulevardblatt der Republik einen Fahndungserfolg im Fall des Turnlehrers Christoph G. aus der Eifel: „Bild hat den Tatort gefunden.“ Zitiert werden Reaktionen der „fassungslosen Nachbarn“ und ein Gastwirt aus Bayern, der eröffnet: „Bei uns jobbte die Sex-Bestie“. Am Dienstag kam eine Meldung aus Ingolstadt, wo ein Sportlehrer Mädchen im Sommerlager sexuell benutzte. Der Mittwoch brachte den Fall der verhungerten kleinen Sarah. Am Donnerstag gestand ein fünffacher Familienvater vor dem Landgericht Bielefeld eine 13-Jährige, die er mit dem Auto angefahren hatte, vergewaltigt zu haben.

Als der vermeintlich Andere schlechthin aber ist vor allem der Missbrauchstäter ein Faszinosum und Kuriosum, in dessen mit zahlreichen Facetten ausgemaltem monströsen Schatten die Opfer-Seite erstaunlich vage bleibt. Zum Repertoire der Storys gehören selbstverständlich „das Martyrium der fröhlichen kleinen Y“ oder „das Leiden des verstörten kleinen X“, als „unfassbar“ oder „unvorstellbar“ bezeichnet, von „erschütterten Angehörigen“ beklagt. Vornamen von Opfern gerinnen im Lauf der Berichterstattung zu Chiffren, die das Publikum ein paar Tage oder Wochen lang begleiten; Corinna, Kardelen, Lea-Sophie, Hannah, Natascha, Dennis, Kevin, Sarah, Mitja, Jessica, Robin, Malin, Pascal, Lara-Mia, Leon, Michelle und all die andern Namen, die sich im gespenstischen Archiv der Medienkonsumenten ablagern, bis der nächste Name dazukommt.

Am Rande des bizarren Rituals werden „Experten“ befragt, Psychologen, die das Unerhörte auf knappe Sätze reduzieren können. Sie mahnen an, Eltern sollten dem Kind präventiv vermitteln: Dein Körper gehört dir. Das ist richtig. Es fragt sich nur, wie tief die Botschaft einsickert und bei wem. Bei „Bild“ waren am Montag die Online-Kommentatoren zur Stelle. Eine von ihnen sah in dem missbrauchenden Turnlehrer „eines der größten Schweine (denn als Mensch kann man so was nicht bezeichnen) die es gibt“. Ein anderer wiegelte sportlich ab: „Mein Gott. Halt mal dem Ball flach. Kinder verkraften so was sehr viel besser als du denkst.“ Beide Überzeugungen – „So ein Schwein!“ und „So was stecken Kinder weg!“ – sind prototypisch und stehen einander keineswegs diametral gegenüber, sondern funktionieren komplementär. Denn so faszinierend jede dieser „entmenschten Sex-Bestien“ wirkt, so wenig bemüht sich die Öffentlichkeit zu begreifen, welche meist lebenslange Schädigung und Störung Minderjährige durch deren Verhalten erfahren. Wir wollen grausame Details sehen – aber im Grunde nichts Genaues wissen.

Jede weiter gehende, analytische Dimension bedroht den makabren Sexappeal nicht nur des fiktiven, sondern auch des realen, medial vermittelten Krimis.

Mit der Frage, wie die psychischen und physischen Symptome sogenannten „Missbrauchs“ aussehen und wie endemisch die Taten vorkommen, endet deren News-Genuss. Sie allein kann aber Erkenntnis fördernde Empathie entstehen lassen. In wohlhabenden Industrieländern wie Deutschland werden laut jüngsten Erhebungen der international führenden medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ (Volume 373, Issue 9657, 3. Januar 2009) jährlich bis zu 16 Prozent aller Kinder physisch misshandelt. Zehn Prozent der Kinder erleben Vernachlässigung und psychische Misshandlung. Im Laufe ihrer Kindheit sind fünf bis zehn Prozent aller Mädchen sowie rund fünf Prozent der Jungen penetrierendem sexuellen Missbrauch ausgesetzt, andere Formen sexuellen Missbrauchs betreffen sogar bis zu 30 Prozent aller Kinder. Die meisten Fälle, das weiß jeder Sozialarbeiter, passieren in Familien, oft sind die Täter Väter und Mütter der Opfer. Hunderttausende auch gutbürgerlicher User des Internets klicken außerdem täglich Kinderpornos an.

Statistisch klafft also zwischen den „Sex-Bestien“ des Boulevards und den zuschlagenden Horror-Paaren, die die Körper ihrer Kinder mit Hämatomen übersäen, keineswegs ein so großer Canyon, wie ihn die Skandalisierung medial aufbereiteter Einzeltaten suggeriert. Indes reagiert sich die Gesellschaft an singulären „Monstren“ ab, die sie als „Schweine“ stigmatisieren darf.

Mediziner und  Unicef-Studien schätzen, dass jährlich alleine in Deutschland zwischen 150.000 und 180.000 Kinder physisch misshandelt werden - das ist , als tobe ein versteckter Bürgerkrieg gegen die Kinder. Es wird geschätzt, dass im  Durchschnitt zwei Kinder pro Woche an Misshandlungen sterben. Die Mehrzahl der „leichten“ Fälle wird zudem nie aktenkundig. Würden Terroristen so viele Opfer fordern, wäre der Überwachungsstaat schon da. Gert Jacobi, Professor für Pädiatrie und Neurologie, der von 1968 bis 1998 an der Kinderklinik des Universitätsklinikums Frankfurt am Main praktizierte, gab 2008 das pädiatrische Standardlehrbuch „Kindesmisshandlung und Vernachlässigung. Epidemiologie, Diagnostik und Vorgehen“ heraus. Auf über 500 Seiten kategorisierter Fallbeschreibungen wird deutlich, was Jacobi im Vorwort als Folge der gesellschaftlichen „Tabuisierung der Gewalt gegen das Kind“ festhält: „Nicht mehr das misshandelte Kind selbst steht im Mittelpunkt, sondern die Täter.“ Jede fadenscheinige Erklärung, so Jacobi, werde herangezogen, um Eltern zu entlasten, wie es sich bei Jugendämtern, Gerichten und Gutachtern eingebürgert hat, Eltern, die Straftaten am Kind begehen, „Überforderung“ oder „Hilflosigkeit“ zuzuschreiben. Verharmlosen, Verleugnen und Straffreiheit, so Jacobi, bestimmen noch immer das größtenteils tabuisierte Feld. „Die Jugendämter“, erklärt er im Gespräch, „müssen konsequent ihre Rechte durchsetzen, sich, auch mit Hilfe der Polizei, Einlass in Wohnungen und Kinderzimmer verschaffen, sie sollen Kinder auch entkleidet begutachten, mit Kaffeetrinken auf dem Sofa sind Hausbesuche für die Katz“. Von Pädiatern wünscht sich Jacobi mehr Zivilcourage, Jugendämter zu alarmieren, wenn sie Verdacht schöpfen.

Irreführend ist laut Jacobis Lehrbuch die gängige Auffassung, Missbrauch und Misshandlung als Problematik von Unterschicht und Migrantenmilieu zu sehen. „In Wirklichkeit wird genauso in Kreisen des Mittelstands und bei Reichen misshandelt“, schreibt er, „nur dass dort sublimere Formen gebraucht werden und die schweren Misshandlungen leichter verborgen bleiben, unter den Teppich gekehrt werden“. Zu solchen gehört etwa das „Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom“, wie es bei meist gebildeten, jedoch psychisch gestörten Müttern vorkommt, die ihr Kind von Arzt zu Arzt schleppen, um es schmerzhaften Verfahren, etwa im Genitalbereich, zuzuführen, an denen sie sadistisch partizipieren. Nach außen gelten sie als vorbildlich fürsorglich.

In drei Jahrzehnten Praxis hat Jacobi bei minderjährigen Patienten Schädelbrüche, Hirnblutungen, Frakturen von Gliedmaßen, innere Blutungen, Prellungen, Verbrennungen, Verbrühungen, Blutergüsse festgestellt, die zu Gedeihstörungen aller Art führen. Die Fotos und Röntgenbilder im Lehrbuch sind für Laien schwer erträglich, wenn auch Augen öffnend. Akute Armut allein erkennt Jacobi noch nicht als Ursache des oft über Generationen tradierten Phänomens der Gewalt, sondern elterliche Empathiearmut und seelische Kälte, kombiniert mit der Vorstellung, Kinder seien ein quasi gegenständlicher Besitz der Familie und hätten daher auch als Sündenböcke und als Blitzableiter für eigene Frustrationen und Konflikte zu dienen. Die Perfidie der Arrivierten kann da mit der Brutalität der Unterprivilegierten durchaus so konkurrieren, wie generell die weiblichen mit den männlichen Tätern. Den Effekt von Gewalt in der Erziehung beschrieb die schwedische Reformpädagogin Ellen Key 1901 in ihrem damals in Skandinavien und Amerika gefeierten Pamphlet „Das Jahrhundert des Kindes“ mit einer Vignette. Ein Vierjähriger war von der Mutter zur Strafe geschlagen worden. Am Abend fragte ihn seine Kinderfrau, was er Gott im Gebet sagen wolle. Er wusste es genau: „Lieber Gott, reiße der Mama die Arme aus, damit sie nicht mehr schlagen kann!“

Zuneigung haben sich Erwachsene durch Gewalt an ihren Kindern nie erworben. Ihr ultimativer Verrat am Kind aber ist sexueller Missbrauch in jeglicher Form. Fachleute nennen als Folge sexuellen Missbrauchs – die Trennlinie zwischen Missbrauch und Misshandlung ist fließend – massive körperliche wie seelische Störungen. Körperliche reichen von Magen- und Darmverstimmungen bis zu Prellungen, Kratzern, Rötungen, Schwellungen oder Blutungen im Genital-, Vaginal- oder Analbereich. Zu seelischen Anzeichen gehören Aggressionsschübe, Abwehr von Körperpflege, Hyperaktivität oder Passivität, sexualisiertes Verhalten im Umgang mit Spielkameraden, regressives Verhalten wie Daumenlutschen, Bettnässen, vermehrtes Weinen, das Einführen von Gegenständen in Vagina oder Anus, extreme Anhänglichkeit, Angstanfälle, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, unangemessene Nähe zu Fremden, Mangel an Selbstvertrauen und Vertrauen, und, kaum verwunderlich, die Angst, sich auszuziehen. Erwachsene Überlebende leiden häufig an Depressionen, Bindungsängsten, posttraumatischen Belastungsstörungen und Selbstwerteinbrüchen. Ist der Missbrauch nicht aufgearbeitet, werden viele von ihnen selber zu Tätern.

Drei Kernmerkmale kennzeichnen den Kindesmissbrauch, erläutern die amerikanischen Therapeutinnen Jody Messler Davies und Mary Frawley in ihrer erstklassigen Studie zur Behandlung Erwachsener, die als Kinder missbraucht wurden: Erstens das absichtliche Überstimulieren des Kindes, zweitens das Beschuldigen des Kindes eben dafür und drittens das Unterbinden der Versuche des Kindes, sich selber zu trösten und zu beruhigen. Dem Kind wird dabei die Basis seines Weltvertrauens entzogen, seine Fähigkeit zur gesunden Realitätsprüfung wird sabotiert. Unbewusst muss es sich fragen: Was ist innen? Was ist außen? Wo sind meine Grenzen? Habe ich die überflutenden Übergriffe veranlasst oder verdient? Beschuldigt für die heimlichen Taten der Mutter, des Vaters, Opas oder Sportlehrers, fahndet das Kind nach einem inneren Kompromiss zwischen dem Bild des guten Erwachsenen, das es behalten will, und dem ihm aufgedrängten Bild von sich selber als der kleinen Hure, Hexe, Verführerin oder dem aufreizenden Lustknaben. Im Begriff „Kinderschänder“ ist diese perfide Volte aufgehoben. Er unterstellt, der Täter bereite dem Kind Schande – die Schande landet im alltäglichen Sprachgebrauch beim Kind. „Die Kleine hat provoziert! Der Kleine wollte das doch auch!“. Dabei ist es die Schande des Täters, dass er oder sie in das Seelenleben des Kindes illegitim und destruktiv eingedrungen ist. Trotz der Kolonisierung seiner Unschuld will nun das Kind aber ein Kind bleiben, eines wie seine Altersgenossen. Seine Psyche benötigt „gute Eltern“, und seien es fantasierte. Daher spalten Kinder, die statt Schutz Attacken auf ihre Integrität erleben, Täter und Straftat innerlich ab, sie verteidigen die Täter und verlagern „das Böse“, wie vom Täter gewollt, auf sich selber.

Dem nächsten katastrophalen Riss begegnet das Kind meist dann, wenn es als Jugendlicher oder Erwachsener alt und mutig genug wird, sich klarer zu artikulieren. Aufgebracht schallt ihm entgegen: Du lügst! Du willst die Familie, die Schule, die Gemeinde, den Verein in den Dreck ziehen. Sogar Ärzte, Sozialarbeiter, Therapeuten und Psychologen wehren das Thema oft ab, verharmlosen oder verleugnen die „bad news“ ihrer Klienten und Patienten. Dass Gewalt gegen Kinder abnimmt, wie etwa Christian Pfeiffer vom Kriminologischen Institut Niedersachsen diese Woche wieder erklärte, kann der Kinderarzt Jacobi nicht feststellen: „Die Fantasie, mit der Kinder gequält werden“, sagt er, „ist noch immer ungebremst“. Erst eine Gesellschaft, die das Problem als epidemisch erkennt und es konfrontiert, wird das ändern.

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