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Kurt Russell, Jennifer Jason Leigh und Bruce Dern in "The Hateful 8".

© Universumfilm

Zum Start der Berlinale: Das Kino bleibt unersetzlich

Allen Abgesängen zum Trotz: Das Kino ist höchst lebendig - und wird weder an TV-Serien noch an Youtube zugrunde gehen. Dies liegt gerade an seiner Ritualhaftigkeit.

In welche Extremsituationen einen das Kino zu treiben vermag, kann zum Beispiel der Lette Nikolai Zikov bezeugen. An einem Samstagabend besuchte der angesehene Rechtsanwalt das „Forum Cinemas“ in Riga, er entschied sich für die Vorstellung des Psychothrillers „Black Swan“ mit Natalie Portman in der Hauptrolle.

Er kaufte sich eine Tüte Popcorn, wie er es immer tat, und betrat den Saal. Während der Vorführung wurde er aus einer hinteren Reihe ermahnt, sein Popcorn doch bitte leiser zu verzehren. Nikolai Zikov hielt sich nicht daran, er wollte es genau auf die Weise essen, wie er es sonst auch tat. Der andere Kinobesucher, der sich gestört fühlte, wurde energischer, forderte nochmals Ruhe ein.

Da stand Nikolai Zikov auf, zog seine Neun-Millimeter-Pistole und erschoss den Mann. Jetzt sitzt er eine Haftstrafe von 17 Jahren ab. Vor Gericht hat er vergeblich auf Notwehr plädiert.

Das Beispiel des Letten Nikolai Zikov ist nur der schreckliche Einzelfall eines Menschen, der vermutlich auch ansonsten Probleme im Leben hatte. Doch zeugt es ebenso von der Ritualhaftigkeit, der ein Gang ins Kino unterworfen ist. Kino folgt Regeln, ist ein Zeremoniell, und Detailabweichungen können Abende ruinieren. Allein die Frage der richtigen Ankunft: Gehört die Werbung vor dem Film zum Gesamterlebnis dazu oder kann man sich die schenken? Darf während der Trailer noch gequatscht werden?

Genauso später die Abspannfrage: Soll man am Ende von Quentin Tarantinos „The Hateful 8“ einfach aufstehen und gehen oder sitzenbleiben und warten, bis alle Credits durchgelaufen sind und klar ist, wer bei dieser Produktion Best Boy und wer Key Grip war? Es könnte ja sein, dass der Regisseur die Ausharrer noch mit einer allerletzten Szene belohnen will.

Über solche Kleinigkeiten kann man unmöglich in Streit geraten, könnte man meinen. Solange es einem selbst noch nicht passiert ist. Es sind Grundsatzfragen, die Kinogänger trennen wie Beatles- von Stones-Anhängern. Entweder oder.

Wer lange ansteht, genießt auch mehr

Besonders ritualbeladen ist der Besuch eines Filmfests wie der Berlinale, die am Donnerstag startet. Das Anstehen für Karten, das Bangen, nicht leer auszugehen, beides gilt als unmittelbare Investition in den späteren Genuss. Der koreanische Episodenfilm muss einem nichts sagen. Es reicht, wenn man ordentlich Aufwand betrieben hat, um ihn sehen zu können.

Seit Jahren prophezeien Schwarzmaler den Niedergang des Kinos, finden selbst in Zeiten, in denen „Star Wars: Das Erwachen der Macht“ zum erfolgreichsten Film Nordamerikas – und bald der ganzen Welt – wird, viele Argumente, weshalb der Kollaps praktisch nicht mehr aufzuhalten sei. Die meisten dieser Argumente haben irgendwie mit dem Internet zu tun. Und sie sind allesamt Unfug! Wer’s nicht glaubt, muss sich bloß ansehen, was genau zur Existenzbedrohung stilisiert wird.

Zunächst ist da die Möglichkeit, Kinofilme im Netz zu „streamen“, also anzuschauen, ohne sie vorher herunterladen zu müssen. Millionen Deutsche tun das jeden Monat, die meisten auf kostenlosen, aber illegalen Plattformen, die von den Betreibern im Ausland gespeichert werden, um sich der Strafverfolgung zu entziehen. Mit einem Kinobesuch ist das nicht zu vergleichen.

Illegales Streamen ist ein ästhetisches Grauen

Die Bilder sind oft verschwommen, als hätte jemand eine Milchglasscheibe über den Bildschirm gelegt, sie ruckeln, bleiben stehen, ständig muss die Seite neu geladen werden. Und man wird von blinkender Sexbörsen-Werbung genervt, die sich auch von Adblockern nicht aufhalten lässt. Illegale Streamingseiten sind ein ästhetisches Grauen. Wie soll so ein Trash jemals das Kino verdrängen?

Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass die Nutzung von Streaming-Angeboten eigentlich gar nicht illegal ist, jedenfalls gibt es kein einziges Gerichtsurteil, das darauf schließen ließe. Nur gegen diejenigen, die solche Dateien ins Internet stellen, wird vorgegangen – nicht aber gegen den Konsumenten. Die Filmlobby hätte längst Verfahren anstrengen und abschreckende Präzedenzfälle herbeiführen können, die dann andere Menschen von Streamingseiten fernhielten. Dass sie dies nicht tut, ist kein Akt der Nächstenliebe. Tatsächlich ist den Lobbyvertretern schlicht das Risiko zu groß, der Richter könnte zu ihren Ungunsten entscheiden – womit dann offiziell feststünde, dass sich jeder Bürger jederzeit Streamingfilme anschauen darf, auch auf illegalen Portalen.

Schadet "Game of Thrones" dem Kino?

Als Sargnägel des Kinos werden gern auch TV-Serien genannt, jedenfalls die hochwertig produzierten US-Formate, „Game of Thrones“, „Breaking Bad“, „True Detective“. Stimmt, die fesseln. Bloß sind sie keine Entscheidung gegen das Kino, sondern dessen Fortführung mit anderen Mitteln. Der wahre Verdrängungswettbewerb läuft nicht zwischen guten TV-Serien und Kino, sondern zwischen guten TV-Serien und schlechten TV-Serien.

Und schließlich ist da die „Youtube“-Bespaßung. Katze ärgert Hund, Typ rennt gegen Schrank, guck mal, die Frau kann gar nicht singen. Schminktipps. Comedy. Computerspiel-Besprechungen. Das alles hat seine Berechtigung, nur ist es ebenfalls keine Konkurrenz für das Kino.

Was im Internet stattfindet, verleitet zum flüchtigen Konsum, lädt zu Multitasking ein, und daran gibt es nichts auszusetzen. Wer jedoch ins Kino geht, hat sich bewusst dazu entschieden, hat sich einen Film ausgesucht, die Wegstrecke ins Kino zurückgelegt, sich auch vorgefreut. Ist vielleicht noch kurz zur Toilette gegangen, damit er gleich nicht mehr muss.

Ein Kinobesuch ist Quality Time. Man möchte sich auf ein Werk einlassen und alles andere ausschalten. Fände zeitgleich draußen auf der Straße eine Alieninvasion statt, man bekäme sie drinnen gar nicht mit. Die Leinwand, der Sitzbezug, der raumgreifende Klang. Kein Heimkino wird das jemals ersetzen können, mobile Abspielgeräte schon gar nicht.

Früher war angeblich alles besser

Ein beliebtes Argument der Niedergangs-Propheten lautet: Früher gingen die Menschen sehr viel häufiger ins Kino. Das ist korrekt. In den Vereinigten Staaten etwa sahen sich in den 1930er Jahren fast zwei Drittel der Bürger jede Woche mindestens einen Film an, solche Werte wären heute undenkbar. Bloß fand der Einbruch schon vor Ewigkeiten statt: Bereits in den 60er Jahren ging nur noch jeder Zehnte wöchentlich ins Kino, der Wert hat sich bis heute in etwa gehalten.

Kino ist Gemeinschaftserlebnis. In den Nullerjahren haben es die Menschen zu schätzen gelernt, dass auch Fernsehen im Kollektiv einen Mehrwert hat, egal ob bei Fußballübertragungen oder beim Krimi. Auch hier hat sich das Medium Fernsehen dem Kino angenähert, nicht andersherum. Wenn Dogmatiker wie Lars Henrik Gass, der Leiter der Oberhausener Kurzfilmtage, unken, es finde längst eine „Privatisierung der Wahrnehmung“ statt, mag das plausibel klingen. Es hat aber nur bedingt mit der Realität zu tun. Das begreift man zum Beispiel jeden Sonntagabend auf „Twitter“, wenn sich tausende Nutzer über die gerade laufende „Tatort“-Folge austauschen. Das Bedürfnis nach gemeinschaftlichem Erleben bleibt stark, sogar wenn es in der stofflichen Welt nicht möglich ist.

Kino ist ein Ort der Aushandlungen. Siehe das Drama ums Popcorn. Über dessen Verzehr streiten auch Menschen, die nicht sofort zur Waffe greifen. Erst kürzlich hat ein Filmfan aus Newcastle eine Petition gestartet: Er will die britische Regierung zwingen, Popcorn landesweit aus allen Sälen zu verbannen. Der Mann hat recherchiert und herausgefunden, dass es solch ein Verbot bereits einmal gab, in den 1920er Jahren in den Vereinigten Staaten. Seine Initiative erhält regen Zulauf. Allerdings wurde auch schon eine Gegenpetition gestartet, die dem Popcornhasser aus Newcastle zuvorkommen und das Recht auf Puffmais vor der Leinwand gesetzlich verankern möchte.

Wenn das Kino durch die Konkurrenz der neuen Medien, durch TV-Serien und „Youtube“, etwas eingebüßt hat, dann ist das seine Chance, avantgardistisch zu sein. Eine Kinoproduktion und die Vermarktung des Werks sind, im Vergleich zu einer Webserie mit kleinem Budget und kleinem Entscheiderstab, äußerst schwerfällige Angelegenheiten. Weil es um so viel Geld geht und tausende Existenzen dranhängen, setzen die Studios auf Risikominimierung. Also verfilmen sie Superheldencomics oder Computerspiele, bringen Fortsetzungen erfolgreicher Franchises, bis es selbst die treuesten Fans nicht mehr ertragen.

Experimente und Innovationen finden jetzt auf anderen Spielwiesen statt. Der Podcast „Serial“ hat Furore gemacht, indem er in zwölf hörspielartigen Episoden einen realen Mordfall aus dem Jahr 1999 neu aufrollt und Zweifel an der Schuld des Verurteilten weckt. Millionen haben mitgefiebert, sich Folge um Folge aus dem Netz geladen. „Serial“ stand lange an der Spitze der iTunes-Charts, wurde fortgesetzt, zigfach kopiert, das Konzept auch ins Fernsehen übersetzt. Solch ein wagemutiges Projekt lässt sich nur verwirklichen, wenn die Kreativen Entscheidungshoheit haben, wenn ihre Ideen nicht so lange geschliffen werden, bis sie vermeintliche Zielgruppen ansprechen.

Unlogischer Bombast namens "Inception"

Kurt Russell, Jennifer Jason Leigh und Bruce Dern in "The Hateful 8".
Kurt Russell, Jennifer Jason Leigh und Bruce Dern in "The Hateful 8".

© Universumfilm

Trotzdem lassen wir uns gelegentlich einreden, es gäbe noch avantgardistische Kinofilme. Zum Beispiel „Inception“. Auf den ersten Blick ein Geniestreich. Auf den zweiten unlogischer Bombast. Nicht intelligent erzählt, sondern bloß verwirrend, sodass der Zuschauer am Ende sich selbst die Schuld fürs Nichtbegreifen gibt. Würde man die Prämissen dieses Werks, die verschiedenen Traumebenen mit all ihrer Physik, konsequent durchdeklinieren, käme dabei eben kein mitreißendes Spektakel heraus, sondern ein mehrere Stunden dauernder, im wahrsten Sinn unansehbarer Arthouse-Film.

Zu den rührendsten Missverständnissen zählt die Annahme, dass Kino jetzt, da es im Aufmerksamkeits-Wettbewerb mit digitalen Medien steht, an Glanz und Erhabenheit einbüße. Doch die Filmindustrie war immer halbseiden, verlottert und skandalgeplagt. Der Grund, warum sich die US-Studios in den 1910er Jahren im brachliegenden Hollywood ansiedelten und nicht etwa in New York, war neben dem günstigeren Klima vor allem die Tatsache, dass man dort unbeobachtet seinen Machenschaften nachgehen konnte. Steuerbetrug und Lizenzverletzungen ließen sich leichter verheimlichen. Es gab billige Arbeitskräfte en masse, die sich ausnutzen ließen. Und dank der Nähe zur mexikanischen Grenze konnten sich Produzenten wie Schauspieler im Zweifelsfall der Strafverfolgung durch Flucht entziehen.

Krumme Deals, Orgien und Strichermorde

Die Geschichte Hollywoods ist eine Aneinanderreihung von krummen Deals, Orgien und Strichermorden. Der Autor Kenneth Anger hat das anschaulich in seinem Report „Hollywood Babylon“ dokumentiert. Cary Grant? War LSD-Junkie. Charlie Chaplin? Ein notorischer Jungfrauenjäger. James Dean war ein ungehobelter Wichtigtuer, der ständig mit Stimmungsschwankungen und Filzläusen zu kämpfen hatte. Der gnädige Blick auf die Vergangenheit, der uns ehrfürchtig werden lässt, ist pure Verklärung.

Das zeigt sich wunderbar beispielhaft am Geschluchze über den Tod der vermeintlich „letzten Diva“. Seit 25 Jahren geht das so: Egal ob Elizabeth Taylor, Lauren Bacall oder Ruth Leuwerik stirbt, ob Hildegard Knef, Greta Garbo oder Marlene Dietrich, ob Hedy Lamarr oder Bette Davis, immerzu heißt es, die letzte echte Diva sei von uns gegangen. Jetzt aber wirklich. Vielleicht sagt man dasselbe irgendwann, in hoffentlich ferner Zukunft, über Scarlett Johansson oder Emma Stone. Und wer weiß, womöglich wird man 2030 auf „Fack ju Göhte 2“ als den großen deutschen Autorenfilm zurückblicken.

Die Angst vorm Niedergang des Kinos hat Tradition, sie ist beinahe so alt wie das Kino selbst, ja ist letztlich Teil der großen Illusionsmaschine. Der deutsche Regisseur Edgar Reitz prophezeite schon 1968: „Der Film verlässt das Kino“. Seit Jahrzehnten warnen Kritiker, neue Produktionen gerieten derart trivial, dass daran die gesamte Kunstform Kino zugrunde gehe – und machen ihre These jeweils ausgerechnet an (zu diesem Zeitpunkt aktuellen) Filmen wie „007 jagt Dr. No“, „Der Weiße Hai“, „Star Wars“ oder „Ghostbusters“ fest. Also Werken, die später einmal als Klassiker bejubelt werden.

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