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Meinung: Klein und unkritisch

Norwegens Konsenskultur hat vieles tabuisiert, dem sich das Land stellen muss

Alles hat seine Zeit, und jetzt ist nicht der Zeitpunkt, mit dem Finger auf andere zu zeigen“, fasste der sozialdemokratische Außenminister Jonas Gahr Störe den Konsens zusammen, an den sich derzeit in Norwegen von Linksaußen bis Rechtsaußen alle mit einer unfassbaren Solidarität und Selbstbeherrschung halten.

Eigentlich hätten die Norweger derzeit viele Gründe, um mit dem Finger zu zeigen. Da ist die Polizei, die die Tat nicht vereiteln konnte, obwohl Anders Breivik in einem überschaubaren Land während der jahrelangen Vorbereitung viele auffällige Spuren hinterlassen hat. Auch nach der Explosion in Oslo machte sie das meiste falsch. Doch die Polizei wird stattdessen für ihren heroischen Einsatz gefeiert.

Nur hinter vorgehaltener Hand wird diese Kritiklosigkeit als das Merkmal einer Gesellschaft der Seilschaften beschrieben, in der jeder zum eigenen Vorteil den anderen deckt und die eine echte Meinungsvielfalt nicht kennt.

Das Zusammenstehen hat tatsächlich ein Gutes: Das familiäre Norwegen vergibt, was nicht rückgängig zu machen ist. Weil das Land klein ist, sind die Beziehungen zwischen den Akteuren weniger anonym, alle sind oder fühlen sich betroffen, weil sie Betroffene kennen. Das Gebot, Zurückhaltung zu üben, wird erstaunlich akribisch eingehalten: kein kritisches Wort, auch nicht von den Medien. Wer sich dem widersetzt, könnte in diesem Land, in dem jeder jeden kennt, beruflich ausgespielt haben.

Wenn die Trauer überwunden ist und die Norweger wieder aufeinander mit dem Finger zeigen dürfen und müssen, weil das nichts Anrüchiges ist, sondern daraus das Fundament einer Demokratie besteht, wird Jens Stoltenberg hoffentlich sein Versprechen einlösen und die umfassende Aufklärung aller Umstände einschließlich der Polizeiarbeit liefern. Auch wenn jeder Mensch, der eine solche Tat begeht, verrückt sein muss, stehen Fragen an.

Inwieweit zum Beispiel muss sich die politische Konsenskultur Norwegens gegenüber Tabufragen öffnen? Das Land, in dem die Bevölkerung zunehmend altert, braucht Einwanderer. Aber es muss sie auch integrieren und ihnen Aufstiegschancen einräumen, um die Bildung einer neuen, sozial ausgegrenzten und damit für Kriminalität anfälligeren Unterschicht zu verhindern. Auch könnten die norwegischen Sozialdemokraten die Chance nutzen, um offen zu mehr Einwanderung zu stehen und zugleich zu erklären, warum sie gut ist – statt wie bisher die restriktive Ausländerpolitik der rechtspopulistischen Fortschrittspartei FRP immer weiter nachzuäffen.

Für die FRP und ihre Vorsitzende Siv Jensen bietet sich die Chance, sich auf ihre ursprünglichen Kernthemen, wie Steuersenkungen und die stärkere Verteilung der Öleinnahmen, zu besinnen. Themen, denen die Partei, die die Ausländerfrage relativ spät entdeckte, viele Wähler zu verdanken hat. Vor allem aber muss die ineffektive Organisation der Sicherheitskräfte durchleuchtet und reformiert werden, damit sich die Norweger wieder sicherer fühlen können. Dafür ist es offenbar in Norwegen, so kurz nach dem Anschlag, noch zu früh.

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