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Meinung: Klon des Karnevals

Pascale Hugues, Le Point

Bis zu jenem Tag war der Karneval für mich nichts weiter als eine blasse Erinnerung aus der Kindheit: Auf der Rückfahrt aus den Skiferien in Österreich drückten mein Bruder und ich uns an den beschlagenen Scheiben des Familienpeugeots die Nasen platt. Wir beobachteten die Trauben von traurigen Clowns, die Reihen von beschwipsten Indianern, die durch die Hauptstraßen deutscher Kleinstädte defilierten. Zwanghafter Frohsinn unter graupelgrauem Himmel. Eine eigenartige Tristesse, die für uns das Ferienende bezeichnete.

Seit Jahren bestätigt der Berliner Karneval diesen instinktiven Widerwillen immer wieder. Keine Verrücktheit, keine befreienden Ausschweifungen, kein Samba, keine Kamellen, weder Helau noch Alaaf. Im Protestantenland versagt man sich diese fünf Tage der Anarchie, in denen die Gesellschaftsordnung auf den Kopf gestellt wird und jeder ein anderes Leben für sich kreiert. Kein Richter von Moabit zieht trommelschlagend durch die Kneipen der Stadt, kein stilles Hausmütterchen verwandelt sich in eine extravagante Femme fatale. In meiner Bank vertauscht kein Angestellter seinen anthrazitgrauen Anzug gegen Netzstrümpfe, und die wasserstoffblondgefärbte Kassiererin von „Nah und gut“ verwandelt sich nicht in eine dunkle Scheherazade aus dem fernen Morgenland. Zu Karneval werfen die Berliner ihre Alltagshaut nicht ab; eingemummt in ihre Anoraks sehen sie sich am Straßenrand den kümmerlichen Umzug durchgefrorener Narren an. Die ganz Mutigen unter ihnen haben sich eine rote Nase oder ein langweiliges Hütchen aufgesetzt. Dazu ergießt sich das üppige Tief Viktoria auf dieses missglückte Fest. Berlin mag sich noch so viel Mühe geben, sein mickriger Karneval ist doch nur der trostlose Klon der rheinischen Bacchanale.

Daraus könnte man fast schließen, die Hauptstadt würde den jubelnden Massen aus Snobismus die kalte Schulter zeigen. Ja, man könnte sogar glauben, dass Berlin als Karnevalsmuffel diese große sinnliche und grenzensprengende Explosion flieht … – gäbe es da nicht mitten in der Stadt eine Institution, in der der Karneval verrückter, bunter, frivoler und sogar noch schöner ist als an den Ufern des Rheins. Nein, ich meine nicht die Ständige Vertretung, das etwas künstliche Floß für die Bonner Schiffbrüchigen. Man muss bis ins tiefste Schöneberg fahren, um die fünfte Jahreszeit von Berlin zu erleben – bei Deko-Behrendt, Dekorationsartikel für alle Branchen, auf der Hauptstraße.

Gestresst und mit zwei übererregten Kindern im Schlepptau, muss man am Rosenmontag dorthin gehen, um ein tiefes Delirium zu spüren. Sobald man die Tür aufgestoßen hat, genügt es, sich in einen engen dunklen Schlauch zu drängen; er ist von Federboas, Pailletten und Kunsthaarperücken bevölkert, deren bloßer Anblick Hautausschlag hervorruft. Bewaffnet mit einem kleinen Plastikkorb, kommt man in dem dichten Gedränge kaum voran. Welch verfehlte Schicksale, welch verborgene Träume tun sich auf, hier zwischen Plastiksäbeln und üppigen Pobacken aus Pappmaché! Vergessen ist die Langweile des Büroalltags! Zu Boden gestreckt der tyrannische Chef! Bezwungen der gefürchtete Lehrer! Bei Deko-Behrendt wimmelt es von stolzen Polizisten, kühnen Piraten, anmutigen Prinzessinnen und bedrohlichen Monstern. Zu beklagen sind nur die Mütter von kleinen Jungen, die an die Reinkarnation glauben. Panther, Leopard, Gorilla … ganze Nächte lang habe ich mit Nähen zugebracht, grün vor Neid auf die Mütter schlichter kleiner Cowboys.

Niemals verlässt man Deko-Behrendt ohne einen Scherzartikel: ein Hundehaufen aus Plastik, ein blutverschmierter Finger, eine schwarze Samtspinne, ein Pupskissen … Die Fantasie kennt keine Grenzen, der Kitsch ist unbeschreiblich, die Freude der Kleinen ansteckend. Der Karneval, so wird mir erklärt, ist ein Intermezzo, in dem alles erlaubt ist. Es fällt mir schwer, eine Übertretung zu erkennen, wenn jemand bei Rot über die Ampel geht oder schwarzfährt. Und meinen Apotheker auf den Mund zu küssen oder meinem Nachbarn die Krawatte abzuschneiden, kommt für mich eher einem Albtraum gleich als einem erotischen Verlangen oder einer endlich gestillten Kastrationsfantasie. Auf jeden Fall aber lindert ein Ausflug zu Deko-Behrendt ein ganzes Jahr lang alle Frustrationen, alle Minderwertigkeitskomplexe, alle latenten Konflikte. Übrigens habe ich mich gerade für fünf Tage in einen stolzen gallischen Gockel verwandelt! Und das hat mir sooo gut getan!

Aus dem Französischen von

Elisabeth Thielicke.

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