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Meinung: Königsberg ohne Kant?

Die EU und Russland: Warum Europa Putin ein paar deutliche Worte sagen sollte

Der Verhandlungspartner ist derselbe geblieben – aber lange war er nicht mehr so fremd. Das Moskauer Geiseldrama hat unser Bild von Russland verändert. Kann die EU, die sich an diesem Montag in Brüssel zu einem Gipfel mit Russlands Präsident Putin trifft, einfach zur Tagesordnung übergehen?

Viele Europäer haben immer wieder betont, Russland sei auf dem Weg zur Demokratie, und dieser Prozess brauche seine Zeit. Aber das Geiseldrama und die bitteren Tage danach haben gezeigt, dass Russland noch hinter die Zeiten von Glasnost zurückgefallen ist. Die Selbstvergewisserung des starken Staates war offenbar wichtiger als Menschenleben. Die Informationspolitik der Regierung diente eher der Desinformation. Und nach dem Geiseldrama schränkte das Parlament die Pressegesetze so stark ein, dass die Medien über Tschetschenien kaum mehr berichten können als die offiziellen Verlautbarungen. Außerdem will Moskau die Sicherheitsgesetze verschärfen. In Tschetschenien hat die Armee eine neue Offensive begonnen.

Putins Russland zeigt ein Janusgesicht: Außenpolitisch gibt sich der Präsident als Wegbereiter eines neuen, konsequenten Westkurses. Er hat Russland in der internationalen Politik berechenbarer gemacht. Doch innenpolitisch geht Moskau den Weg in die westliche Wertegemeinschaft nicht mit: Eine gelenkte Demokratie, faktisch abgeschaffte Pressefreiheit und das Fehlen einer Zivilgesellschaft kennzeichnen das neue Russland.

Viel zu lange hat Europa es versäumt, Putins innenpolitischen Kurs offen zu kritisieren. Auch die Kritik an Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien ist nahezu verstummt, seit Putin das Vorgehen der Armee zum Kampf gegen den Terrorismus erklärt hat. Der Präsident selbst hat nie Zweifel daran aufkommen lassen, dass er für sein Entgegenkommen im Anti-Terror-Kampf auch Gegenleistungen einfordert. Dazu zählt auch die Mitsprache in der Nato. Aber vielleicht wird erst jetzt deutlich, wie hoch der Preis für Russlands Westkurs tatsächlich ist.

Haben wir uns täuschen lassen von einem Präsidenten, der vor dem Bundestag weltgewandt den Beginn einer neuen Zeit verkündete? Haben wir wirklich geglaubt, dass mit einem Präsidenten, der sich auf Kant beruft, in Russland eine Zeit der Aufklärung anbrechen würde? Außenpolitisch hat tatsächlich eine neue Epoche begonnen. Aber für die Angehörigen der Opfer des Geiseldramas ist die alte Zeit noch lange nicht vorbei.

Wie sollen die Europäer nun reagieren? Die Partnerschaft mit Russland auf Eis zu legen und das Land zu isolieren, wäre der falsche Weg. Aber in dieser Partnerschaft dürfen Forderungen nicht zu einer Einbahnstraße werden. Bei dem Gipfel in Brüssel wird die EU im Streit um Kaliningrad, das frühere Königsberg, noch einen Schritt auf Moskau zugehen. Das ist schon deshalb wichtig, weil es bei diesem Streit nicht um Paragraphen geht, sondern um den Alltag von einer Million Menschen, die in der Region Kaliningrad leben. Putin hat die Zukunft der Exklave zum Testfall für die Beziehungen zur EU erklärt. Mit demselben Selbstbewusstsein sollten die Europäer ihrerseits offen benennen, woran sie die Beziehungen künftig messen wollen: an der Zukunft von Demokratie und Pressefreiheit in Russland und an einer Lösung des Tschetschenien-Konflikts. In beiden Fällen könnte die EU ihre Unterstützung anbieten, sei es durch Hilfe beim Aufbau einer Zivilgesellschaft oder mit internationalen Beobachtern und Vermittlern für Tschetschenien.

So weitermachen wie bisher können die Europäer nach den Ereignissen der vergangenen Wochen allerdings nicht. Es sei denn, sie wollen mit ansehen, wie Russland vollends zum autoritären Staat wird und Tschetschenien zu einem zweiten Palästina.

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