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Kolumne: Jens Mühling lernt Türkisch: „Burun“ heißt „Nase“

Ich bekenne, dass ich lange zu den Integrationsunwilligen gehört habe. Jahrelang habe ich es verweigert, meine Lebensgewohnheiten der Leitkultur meines Wohnorts anzupassen, ich habe die Sprache meiner Wahlheimat nicht erlernt, ich habe es mir in einer Parallelkultur gemütlich gemacht.

Als Gast kam ich in diesen Kiez, trotzdem benahm ich mich, als sei ich hier heimisch. Ich zwang alteingesessenen Kioskverkäufern, Bäckerinnen, Gemüsehändlern und Kellnerinnen meine Sprache auf, meine Werte, meine Umgangsformen, meine ganze zugewanderte Existenz. Damit aber ist nun Schluss. Ich bin ein Kreuzberger mit niederrheinischem Migrationshintergrund, ich bin hier fremd – und ich werde jetzt endlich Türkisch lernen.

„Pismanlik“ bedeutet: Reue.

Als ich vor gut 15 Jahren aus dem holländischen Grenzgebiet nach Berlin zog, sprach ich genauso viel Türkisch wie heute, nämlich kein Wort. 15 Jahre lang (mit gelegentlichen migrationsbedingten Unterbrechungen) kaufte ich meine Zigaretten bei türkischen Kioskverkäufern, meine Schrippen bei Istanbuler Bäckerinnen, meine Tomaten bei anatolischen Gemüsehändlern, meinen Kaffee bei kurdischen Kellnerinnen. Ich sagte „bitte“, ich sagte „danke“, ich sagte „guten Morgen“, ich sagte „schönen Tag noch“. Ich kann „guten Morgen“ auf Englisch sagen, „schönen Tag noch“ auf Russisch, „bitte“ auf Französisch, „danke“ sogar auf Chinesisch. Auf Türkisch kann ich nichts von alledem sagen. Ich weiß nicht, wie Zigaretten, Schrippen, Tomaten und Kaffee auf Türkisch heißen, ich weiß nicht einmal, wie man sich auf Türkisch entschuldigt.

„Küstahlik“ bedeutet: Arroganz.

Aber der Reihe nach. Neulich war ich beim HNO-Arzt. Am Mehringplatz. Die Details wollen Sie gar nicht wissen, glauben Sie mir. Der Arzt jedenfalls, ein Mann mit Ostberliner Migrationshintergrund, riet mir zu regelmäßigen Nasenspülungen. „Ick sach imma, machen se’t wie die Türken. Könn’se im Koran nachlesen, Jebetsvorbereitung: Wasser rin, hochziehn, schnäuzen.“ Aus dem Kopf nannte er mir die entsprechende Koransure, er schien sie nicht zum ersten Mal zu zitieren. „Kluge Leute, die Mohammedaner.“ Seine türkische Sprechstundenhilfe lächelte. Der Arzt nahm einen Schluck Mokka aus einer winzigen, orientalisch verzierten Tasse, an seiner Oberlippe blieb schwarzer Satz kleben. „Ick sach imma, von den Türken könn’wa ne Menge lernen.“

Behandlungsbedingt musste ich zurück ins Wartezimmer. Neben mir saß ein breit gebauter Türke, jung, mit heftig bandagierter Nase. Er war etwas aufgebracht, weil Patienten vor ihm behandelt wurden, die nach ihm gekommen waren. Um ihn abzulenken, knüpfte ich ein Gespräch an.

„Unfall?“, fragte ich.

„Sportverletzung. Beim Boxen. Der zweite Bruch dieses Jahr.“

„Schwergewicht?“

Er nickte. „Wollte immer Profi werden. Ist nicht einfach als Türke. Die Verbände wollen lieber Deutsche.“

Wir unterhielten uns eine Weile. Ich habe keine Ahnung vom Profiboxen, ich weiß nicht, ob dort wirklich diskriminiert wird, vielleicht war mein Gesprächspartner auch nur der Typ, der immer andere an sich vorbeiziehen sieht, sei es im Wartezimmer oder im Sportverein. Aber wie wir da so nebeneinandersaßen, ein anatolisches Schwergewicht und ein dünner Niederrheiner, wurde mir plötzlich klar, dass meine eigene Integration in Kreuzberg ziemlich kampflos verlaufen war. Und mit einem Mal überkam mich ein ungeheures Lernbedürfnis.

„Was heißt Nase auf Türkisch?“, fragte ich.

„Burun“, antwortete der Boxer.

„Burun ...“, wiederholte ich.

Es war mein erstes türkisches Wort. Und wissen Sie was? Es war überhaupt nicht schwierig!

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