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Hatice Akyün ist Autorin und freie Journalistin. Sie ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in Berlin zu Hause.

© promo

Kolumne MEINE Heimat: Leb wohl, Deutschland

Das Schöne am Reisen ist, dass man nicht nur neue Länder entdeckt, sondern auch Abstand zu seinem Leben bekommt. Also habe ich beschlossen, mich wieder auf eine Reise zu begeben - in eine Umgebung, die mir zwar nicht völlig fremd ist, aber für die ich bereit sein muss, dazuzulernen.

Es gibt Leute, die jetzt schon den Winterurlaub für das nächste Jahr gebucht haben. Ich selbst bin hin- und hergerissen zwischen Bewunderung und Ablehnung, wie man sein Leben so auf den Punkt genau planen kann. In einer Lebensphase, in der man glaubt, alles schon einmal erlebt zu haben, ist die Überraschung doch eigentlich das Schönste.

Auch ich bin schon viel gereist, meistens sogar freiwillig. Den Geruch von Hotelzimmern kenne ich auf fast allen Kontinenten. Ich war nahezu überall, meistens um zu arbeiten. Recherche für einen Artikel, Interviews oder Lesungen. Interessant waren diese Ereignisse allesamt, und manchmal konnte man mehr als an der Oberfläche des Ortes kratzen, an dem man sich gerade befand. Sie werden lachen, aber früher, als meine Freunde nach Goa und Gomera gingen, sich nackt im Schlamm wälzten, um sich selbst zu finden, zog es mich ins Allgäu, nach Bayern, an den Bodensee und an die Nordsee. Vermutlich ist Deutschland das schönste Land, das ich kenne. Ich gebe zu, dass der Osten mich nie gereizt hat. Solange ich dort Gefahr laufe, einem braunen Sumpf zum Opfer zu fallen, gehe ich da nicht hin.

Beim Reisen hat mich immer die Neugier angetrieben. Ich wollte wissen, wie andere leben, wie sie die Wurzeln ihrer Kultur bewahren, was sie trennt und was sie zusammenhält. Oft aber habe ich den Koffer gepackt, mich auf etwas Fremdes eingelassen, weil in meinem eigenen Leben Stillstand herrschte oder ich Angst hatte, Entscheidungen zu treffen.

Es fehlte mir womöglich die Reife, zu wissen, dass man nicht vor sich selbst fliehen kann. Umso schmerzhafter war die Rückkehr, weil sich meine Probleme nicht gelöst hatten. Wem diese Erkenntnis nicht fremd ist, wird verstehen, dass man es trotzdem immer wieder auf das Neue versucht. Der Kopf wird frei, der Blickwinkel ist nicht mehr starr fixiert, und die vermeintlichen Katastrophen des Alltags entspannen sich irgendwann. Das Schöne am Reisen ist, dass man nicht nur neue Länder entdeckt, sondern auch Abstand zu seinem Leben bekommt.

Also habe ich beschlossen, mich wieder auf eine Reise zu begeben. Das Beruhigende ist, dass ich mein Leben im Hamsterrad einfach so verlassen kann, ohne jemandem Rechenschaft ablegen zu müssen. Ich begebe mich allerdings nicht in einen befristeten Freizeitstress mit dem Namen Urlaub. Zum ersten Mal versuche ich nicht, alles hinter mir zu lassen, sondern mache mich auf die Suche danach. Ich reise in eine Umgebung, die mir zwar nicht völlig fremd ist, aber für die ich bereit sein muss, dazuzulernen.

Ich freue mich darauf, hoffe auf Antworten und darauf, überrascht zu werden.

Glück ist Gelegenheit und die nehme ich jetzt wahr. Die Koffer sind gepackt, leb wohl Deutschland. Oder wie mein Vater sagen würde: „Cok yasayan degil, cok gezen bilir“ – Nicht, wer lange lebt, sondern wer viel reist, weiß viel.

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