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Hatice Akyün.

© Andre Rival

Kolumne "Meine Heimat": Ich werde spießig, und das ist gut so

Mein Nachbar lässt seinen Hund mitten auf den Gehweg kacken. Und was mache ich? Ich rege mich auf - und mische mich ein.

Ich habe ein Problem. Herzlichen Glückwunsch, mögen Sie mir nun entgegenrufen, das ist etwas, was mich mit vielen Menschen verbindet. Mein Problem betrifft allerdings das Staatsverständnis. In meiner Nachbarschaft wohnt ein Mann, der einen Hund hat. Er lässt diesen Hund mitten auf den Gehweg kacken. Einfach so. Und er denkt nicht im Geringsten daran, die Haufen zu entsorgen. Als ich ihn darauf ansprach, wurde er zornig und teilte mir mit, dass es in Anbetracht der vielen Hundehaufen auf den Straßen doch auf dieses Häufchen nun wirklich nicht mehr ankäme. Was tun? Ich habe eine Abneigung, jemanden zu denunzieren. Auch lehne ich es ab, mich als Oberschiedsrichter aufzuspielen und meinen Mitmenschen Regeln des Zusammenlebens beizubringen. Aber andererseits geht mir die Ignoranz, mit der dieser Mensch seinen Hund die Straßen vollscheißen lässt, gegen meine Vorstellung eines funktionierenden Zusammenlebens in einer Großstadt.

Mir fiel dieser Werbespot einer Bausparkasse ein, in dem die Tochter eines Alternativen aus der Bauwagensiedlung dem Vater von ihren Freunden erzählt, die in Eigentumswohnungen leben. Der Öko-Vater antwortet darauf: „Alles Spießer.“ Und das Mädchen entgegnet: „Papa, wenn ich mal groß bin, werde ich Spießer.“ Mein Problem ist, dass ich spießig werde. Ich will Fehlverhalten nicht ungeahndet lassen, obwohl ich im Grunde meines Herzens gegen einen Gartenzwergüberwachungsstaat bin, weil Kontrolle Menschen nicht zu besseren Menschen macht. Bislang habe ich den Mann nicht angezeigt. Ich weiß ja nicht einmal, ob man das überhaupt kann. Auch weiß ich nicht, wie lange es dauern würde, ihn einzubestellen, anzuhören und ihm einen Bußgeldbescheid zukommen zu lassen. Womöglich geht er in ein Widerspruchsverfahren über mehrere Gerichtsebenen, vielleicht muss er gar nicht zahlen, oder das Verfahren wird eingestellt. Dann lässt er seinen Hund wahrscheinlich nicht nur weiter die Straßen vollscheißen, sondern wirft die Kacke aus Rache in meinen Briefkasten.

Ich frage mich gerade, wie langweilig mein Leben sein muss, dass ich mich über Hundescheiße derart echauffieren kann. Oder ist es vielleicht doch so, dass mit mir alles in Ordnung ist und ich als Teil einer Gemeinschaft sogar dazu aufgefordert bin, mich einzumischen? Ich rege mich nämlich deshalb auf, weil öffentlicher Raum uns allen gehört. Und ich gebe zu, dass ich in ein Alter komme, in dem ich Wert auf meine Umgebung, meine Beziehungen und das Verhalten meiner Mitmenschen lege. Als ich jung war, dachte ich, die Leute, die jeden Kleinkram zum Mittelpunkt ihrer Existenz machen, haben sonst nichts anderes. Nun ist es aber so, dass ich zur Bodenhaftung verdammt bin. Deshalb nehme ich auch das Fehlverhalten in meinem Umfeld wahr und zögere trotzdem, einzuschreiten.

Das muss ich dringend überwinden. Wenn wir wollen, dass es einigermaßen zwischen uns läuft, müssen wir uns daran halten, was wir als Kinder gelernt haben: Sozialverhalten. Mein Nachbar aber reagierte auf meine Kritik nur wütend. Es ist so, wie mein Vater sagen würde: „Dogruyu söyleyeni dokuz köyden kovarlar“ – wer die Wahrheit sagt, den verjagt man aus neun Dörfern.

Die Autorin lebt als Schriftstellerin und Journalistin in Berlin.

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