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Tagesspiegel-Kolumnistin Pascale Hugues liest und diskutiert im Tagesspiegel-Salon.

© Thilo Rückeis

Kolumne "Mon Berlin": Als einzige Überlebende in meiner Straße

Ich sitze auf dem Balkon. Die Straße ist leer. Es ist wie in einem dieser Filme, in denen ein Mensch morgens aufwacht, und alle anderen sind weg. Doch dann durchbricht ein Schrei die Stille.

Ich suche eine Zuflucht. Einen vom Fußball abgeschotteten Ort. Vorige Woche, Deutschland-Portugal, ist es mir endlich gelungen. Ich hatte mich in einen Garten im Oderbruch zurückgezogen. Eines der letzten Funklöcher in Deutschland. Ohne Internet, ohne Handy, ohne Fernseher. Ein Zipfel der Welt, den nicht einmal der Lärm aus den Stadien erreicht. Als es Abend wurde, verschwand mein Nachbar Herr Berger in seiner Stube, in jeder Hand zwei Dosen Bier, gefolgt von seinen beiden Pudeln, einer weiß, einer schwarz, wie die Trikots der Nationalmannschaft.

Herr Berger tauchte nicht mehr auf, ich sah ihn erst am nächsten Morgen wieder. Sein Kopf erinnerte an einen überreifen Kürbis. Die Fußballabende verbringen Herr und Frau Berger in getrennten Zimmern. Unten in der Stube jubelt er für Mario Gomez. Oben im Schlafzimmer schmilzt sie mit Rosamunde Pilcher dahin. Unten Testosteron: Muskeln, Beine, Brusthaar, Schweiß, Spucke. Oben Östrogen: rosiger Teint, englischer Landadel, Sonnenuntergang über der Steilküste von Cornwall, Teetassen, Herzensangelegenheiten. Frau Berger ist wie ich. Sie zieht Liebesgeschichten mit Happy End den Rasenkämpfen vor. Frau Berger und ich gehören zu einem aussterbenden Stamm.

Bis vor wenigen Jahren wäre mein Desinteresse für Fußball als biologischer Determinismus verbucht worden. Die Männer, die Frauen, jeweils in ihrem genau abgegrenzten mentalen Universum. Das lag in den Genen. Aber nun sind die Geschlechterkarten neu gemischt, und die Frauen haben die rosa Pompons der Cheerleader fallen lassen. Sie sind genauso Fans wie die Männer.

An den Ufern der Oder jedenfalls kann man der Unisex-Gleichmacherei noch entkommen, sagte ich mir und legte mich in einen Liegestuhl neben den Johannisbeersträuchern. Welch himmlischer Friede hatte sich über mich gesenkt! Ich genoss jede Sekunde. Die Rasenmäher, die Kettensägen, die Hämmer, die Bewässerungsanlagen … die höllische Serenade, die meine Nachbarn mir täglich am späten Nachmittag glauben darbringen zu müssen, wenn ich mich konzentriert über die Klaviatur meines Laptops beuge – vorbei. Das ganze Dorf hatte sich bei geschlossenen Fenstern und Vorhängen zu Hause verbarrikadiert. Die Hauptstraße war verlassen. Keine Katze, keine Ziege, kein Pferd. Herr Berger hatte seine Hühner im Stall eingeschlossen. Von meiner Liege aus hörte ich nur noch die Vögel, das Sirren der ersten Mücken, gelegentlich das ohrenbetäubende Quaken der Frösche im Teich.

Erst als Mario Gomez das erlösende Tor schoss, zerrissen zwei Detonationen die dichte Stille der hereinbrechenden Nacht. Der Schützenverein oben auf dem Hügel feierte das Ereignis auf seine Weise. Dann fiel das Dorf in seine merkwürdige Erstarrung zurück. Erst als das Bäckerauto am nächsten Morgen die Runde machte, erfuhr ich, wie das Spiel ausgegangen war.

Mittwochabend, zurück in Berlin, Deutschland-Holland. Die Männer sind beim Public Viewing. Ich sitze auf dem Balkon. Die Straße unten ist leer. Ich denke an den Film, wo der letzte Mensch eines Morgens aufwacht und feststellt, dass es in der ganzen Stadt kein Leben mehr gibt. Cafés, Geschäfte, Schulen, Büros … keine lebende Seele mehr. Eine Atombombe hat alles zerstört. Er ist der einzige Überlebende auf dem Planeten. Ich bin die einzige Überlebende meiner Straße. Der Fußball hat die Nachbarn vernichtet. Ich male mir dieses kleine Szenario aus. Zum Spaß mache ich mir Angst, zum Zeitvertreib. Ich stelle den Fernseher an. In der ARD läuft „Gottes mächtige Dienerin“. Ein unfassbarer Kitsch. Eine Schar von Priestern, die mit ihren blauen Augen und ihren Sixpacks eher an die Models für die Underwear von Calvin Klein denken lassen als an die demütigen Diener des Herrn. Christine Neubauer, Haushälterin des Papstes, den Busen unter dem Nonnenhabit eingezwängt, proklamiert: „Ich führe ein Leben in Keuschheit!“ Christine Neubauer, Sexgöttin der Stammtische, kämpft auf Bayrisch gegen die bösen Nazis, während ihre Korsage zu platzen droht. Nur dass die Stammtische heute beim Public Viewing sind und es ihnen wurst ist. Im Treppenhaus sind Schritte zu hören. Die Nachbarn reißen die Fenster auf. Gomez! Gomez! schreit die Straße. Berlin ist wiederauferstanden.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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