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Kommentar: Der Zukunft abgewandt

Die politische Grundstimmung hat sich geändert, es gibt viel Misstrauen gegen das Neue, Fortschrittsskepsis, Misstrauen auch gegen wohlklingende Versprechungen. Das Wort "Zukunft" klingt für viele bedrohlich.

Angela Merkel sagt, die Gegner des Stuttgarter Bahnhofsprojektes seien zu egoistisch. Der Einzelne müsse bereit sein, um der Gemeinschaft und der Zukunft willen auch einmal Nachteile in Kauf zu nehmen, Lärm, Schmutz, Veränderung.

So kann man nur reden, wenn man sich mit den Argumenten der Stuttgart-21-Kritiker nicht näher beschäftigt hat. Die Kritiker bezweifeln, dass diese gewaltige Infrastrukturmaßnahme, das deutsche Bauwerk des Jahrzehnts, etwas bringt. Die Bahn funktioniert eher suboptimal, im Sommer, im Herbst, im Winter, das bekommt jeder Kunde mit, vor allem in Berlin. Und nun wird fast alles, was man an Investitionsmitteln erübrigen kann, für einen Bahnhof verwendet, der nach Ansicht nicht weniger Experten schlechter funktionieren wird als der alte. Wenn aber etwas schlechter wird, dann handelt es sich, rein sprachlich, nicht um einen sogenannten Fortschritt. Das richtige Wort dafür heißt wohl Rückschritt.

Das Zukunftsargument klingt auch deswegen seltsam, weil es von der Kanzlerin kommt. Wenn wir um der Gemeinschaft und um der Zukunft unserer Kinder willen auch einmal Nachteile in Kauf nehmen sollen, was zweifellos richtig ist – wäre dann nicht ein etwas mutigeres Sparpaket angebracht gewesen? Die Staatsverschuldung ist ja die vielleicht größte Last, die wir unseren Kindern hinterlassen. Beliebter wird eine Regierung, die langfristiges Denken in den Vordergrund stellt, in der Regel nicht. Da müsste die Regierung um der Zukunft des Landes willen auch einmal selbst Nachteile in Kauf nehmen. Das wäre ein schönes und überzeugendes Vorbild.

Regierungen pflegen vor allem an die nächsten Wahlen zu denken. Die Probleme aber, egal ob Verschuldung, Energieversorgung oder Klimaschutz, weigern sich irgendwie, diesen praktischen Vier-Jahres-Rhythmus zu übernehmen. Das ist ein oft beschriebenes Grundproblem der Demokratie. Der Bürger, der kurzfristig und egoistisch denkt, spiegelt sich in einer Regierung, die es ihm, zumindest in den zurückliegenden Jahren, in genau der gleichen Weise vormacht. Warum wurde der mühsam erzielte Atomkompromiss widerrufen, wenn nicht wegen kurzfristiger finanzieller Vorteile? Da appelliert man gerne an den Egoismus des Volkes – niedrigere Strompreise, hurra! Was kümmert mich der Atommüll? – , bei anderer Gelegenheit appelliert man dann wieder an den Gemeinsinn, so, wie es gerade passt.

Die politische Grundstimmung hat sich geändert, es gibt viel Misstrauen gegen das Neue, Fortschrittsskepsis, Misstrauen auch gegen wohlklingende Versprechungen. Das Wort „Zukunft“ klingt für viele bedrohlich. Im Berliner Süden protestieren Bürger gegen den Fluglärm, der bald zu erwarten ist, Stuttgart läuft Sturm gegen den Bahnhof und ein Innenstadtquartier, das aus einem gigantischen Einkaufszentrum und brachialer Architektur bestehen soll. In beiden Fällen kamen Beschlüsse mit parlamentarischen Mehrheiten zustande, alle Einspruchsfristen sind verstrichen. Warum kommt der Protest so spät? Weil man den Worten und den Beschlüssen der Parteien immer weniger traut. Die Partei der Steuervereinfacher regiert, als erste Maßnahme macht sie das Steuersystem komplizierter. Das ist nur eines von vielen Beispielen, aus denen das Wahlvolk die Lehre zieht: Geredet und beschlossen wird bei uns viel. Heute so, morgen so. Was tatsächlich kommt, weiß man erst, wenn es so weit ist und wenn der Bauzaun steht.

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