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Kommentar: Fatale Stimmung

Der Wunsch nach Strafe war stärker als die Beweislage. Das Urteil im 1.-Mai-Prozess zeigt: Berlins Polizei und Staatsanwaltschaft waren von einem Erreger infiziert.

Dieser Prozess wirkt wie ein Brandbeschleuniger. Er setzte die Berliner Polizei und Staatsanwaltschaft dem Verdacht aus, angesteckt worden zu sein von politischer Erregung und, derart infiziert, einem erwünschten Ergebnis so stark entgegengefiebert zu haben, dass ihnen Wahn und Wirklichkeit durcheinandergerieten.

Belegt hat das Verfahren gegen die beiden Schüler Rigo B. und Yunus K. chaotische Ermittlungen und einen schlampigen Umgang mit Beweismaterial – besonders mit solchem, das entlastend hätte sein können für die Angeklagten. Das bleibt eine Belastung für die Behörden, über den Freispruch hinaus. Dabei ging es nicht etwa um Bagatellen, sondern um ein schweres Verbrechen, das bei einem Schuldspruch ein Leben unwiderruflich knickt: versuchter Mord, so lautete die Anklage, zum ersten Mal im Zusammenhang mit Krawallen am 1. Mai. Wie der Staatsanwalt trotz aller offenkundigen Fehler, Versäumnisse und Widersprüche „keine vernünftigen Zweifel“ an der Schuld der jungen Angeklagten zu erkennen vermochte, kann einen zweifeln lassen an der Vernunft des Anklägers.

Der Freispruch darf als Beleg dafür gelten, dass der Rechtsstaat am Ende doch funktioniert. Er wird aber von manchen auch so verstanden, dass dies nicht auf alle seine Teile zutrifft. Schuld daran sind nicht zuletzt maßlose Forderungen aus den Reihen der Politik zur Ergreifung und Bestrafung der Täter gleich nach den Krawallen. Das hat eine fatale Stimmung entfacht. Für den nächsten Mai verheißt das nicht Gutes.

Zu den Widersprüchlichkeiten dieses Verfahrens gehört auch das Verhalten des Gerichts. Nach monatelanger Untersuchungshaft waren die beiden Angeklagten im Dezember vergangenen Jahres freigelassen worden. Es bestehe kein dringender Tatverdacht mehr, womöglich liege eine Verwechslung vor. Neue Erkenntnisse hatte es aber bereits in den Wochen zuvor nicht mehr gegeben.

Im Urteil heißt es nun, es habe sich „nicht mit der für die Verurteilung erforderlichen Sicherheit feststellen lassen, dass es die beiden Angeklagten waren“, die den Brandsatz geschleudert hatten. Das bedeutet: im Zweifel für die Angeklagten. Zweifel bleiben also, auch nach Ansicht des Gerichts. Rechtskräftig ist das Urteil zudem noch nicht; eine Revision ist wahrscheinlich. Die juristischen Aspekte dieses Falles werden aber überlagert bleiben vom Verdacht, es sei politischer Druck auf Verfahrensbeteiligte ausgeübt worden.

Das Gericht erklärte bei der Urteilsverkündung zwar, einen solchen Druck habe es nicht gegeben; auch ließ sich bis heute kein einziger Beleg oder zumindest haltbarer Hinweis darauf finden, dass Zeugen, Ermittler oder Ankläger einem unmittelbaren Druck ausgesetzt waren. Aber keiner der Beteiligten agiert im luftleeren Raum. Von Teilen der Politik, aber auch der Gesellschaft wurde die klare Erwartung formuliert, dass der hohen Zahl verletzter Polizisten eine entsprechende Verurteilung von Tätern folgt. Der Wahrheitsfindung diente das nicht.

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