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Babyboom in Berlin: Kinder wagen

Wer sich in Berlin für Kinder entscheidet, ist keineswegs wirtschaftlich gesichert. Viele Eltern leben in prekären Verhältnissen. Berlin hat ein Armutsproblem: Ein Drittel aller Kindert leben von Hartz IV - da wächst eine Generation heran am Rande der Gesellschaft. Es fehlt der Anspruch und der unbedingte Wille im Senat, auch mal mehr als arm und sexy zu sein.

Jedes Kind ist eine Liebeserklärung. An die Frau, die Mutter wird, an den Mann, der Vater wird – und an die Stadt, in der dieses Kind geboren wird. Berlin bekommt viele Liebeserklärungen. 32 000 Babys wurden im vergangenen Jahr hier geboren; nirgendwo in Deutschland waren es mehr. In zehn der sechzehn Bundesländer ging die Geburtenzahl sogar zurück.

In der Mitte der Stadt, wo vorzugsweise Neuberliner leben, ist an den vollen Spielplätzen, zahlreichen Kinderwagen und schwangeren Frauen deutlich zu sehen, was Statistiker nacheilend feststellen. Seit zwei Jahren gibt es einen Geburtenüberschuss, seit vier Jahren wächst die Gesamtbevölkerung. Die jungen, neugierigen und gut ausgebildeten Menschen, die es hierhin zieht, finden Berlin offenbar so attraktiv, dass sie sich vorstellen können, hier Familien zu gründen. Der Nachwuchs ist ihr Geschenk an eine arme Stadt – und ein Vertrauensvorschuss: Sie erwarten hier, in ihrer Stadt, in der Metropole, soziale Gerechtigkeit, ein gutes Bildungssystem und bezahlbare Wohnungen.

Was macht Berlin aus diesem Schatz? Die schönen Bilder tollender Kinder im Park verdecken das unschöne Leben vieler Eltern. Denn eingelöst wird der Wechsel auf eine prosperierende Zukunft vom rot-roten Senat kaum. Im Gegenteil: Im Familienatlas des Bundesministeriums steht Berlin als ziemlich familienfeindlich da, bei Schule und Bildung sowie Wohnqualität landet die Stadt beim Vergleich von 439 Kommunen und Kreisen ganz weit hinten. Zwar schneidet Berlin beim Punkt Vereinbarkeit von Beruf und Familie wegen des dichten Angebots von Kitaplätzen und Krippen gut ab, doch die sozialen Probleme wachsen. Wer sich in Berlin für Kinder entscheidet, ist keineswegs wirtschaftlich gesichert. Unter migrantischen Familien gibt es eine extrem hohe Arbeitslosigkeit; und auch akademisch gebildete Eltern leben vielfach in prekären Verhältnissen mit Kurzzeit-Jobs oder unterqualifizierten Tätigkeiten. Berlin, die Hauptstadt der Transferleistungen, hat ein Armutsproblem: Jeder fünfte Berliner und über ein Drittel aller Kinder in der Stadt leben von Hartz IV – da wächst eine Generation heran am Rande der Gesellschaft.

Die Armut spiegelt sich in maroden Schulen, Lehrermangel und unzureichenden Integrationsangeboten. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit vertraut auf die Strahlkraft Berlins, doch bei der Schaffung von Arbeitsplätzen geht es kaum voran. Es fehlt der Anspruch und der unbedingte Wille, auch mal mehr als arm und sexy zu sein. Von wirtschaftlicher Dynamik sind wir weit entfernt; auch die gefeierte Modemesse auf dem Flughafen Tempelhof ersetzt nicht fehlende Jobs in der Industrie. Berlin, daran erinnerte jetzt das Deutsche Institut für Wirtschaft, hat im Vergleich mit anderen Städten ein strukturelles Defizit von 370 000 Arbeitsplätzen in Industrie und Dienstleistung.

Seit der Wende sind jährlich knapp 100 000 Menschen nach Berlin gezogen – aber auch fast so viele sind wieder gegangen: Weil sie hier keine Arbeit fanden, weil ihnen die Stadt zu dreckig ist oder weil sie sich nicht mehr vorstellen konnten, hier dauerhaft mit Kindern zu leben. So hip kann Berlin auf Dauer gar nicht sein, dass junge Eltern bei der Wahl zwischen Hartz IV oder gut bezahltem Job in der Provinz lange grübeln müssten. Auch Liebeserklärungen nutzen sich ab, wenn sie nicht erwidert werden.

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