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Gast-Kommentar: Die Armuts-Heuchler

Wie Sozialpolitiker eine Lage dramatisieren, um möglichst viel Mitleid und Empörung auf die Mühlen ihrer Politik zu lenken.

Unter Gutmenschen gibt es einen unverrückbaren Glaubenssatz, auf dem ihre Weltanschauung gründet: Die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer. Anders kann es einfach nicht sein, und schließlich hat das schon Karl Marx gesagt.

Bischof Reinhard Marx, der in seinem Buch „Das Kapital“ mit der Namensgleichheit kokettiert, sagt es ebenfalls. „Ich begegne leider immer mehr Armen in unserem reichen Land“, behauptet er. „Das Ausmaß an Armut, das in Deutschland herrscht, ist ein Skandal.“ Vermutlich will er damit sagen, dass unsere jährlichen Sozialausgaben von 124 Milliarden Euro bei weitem nicht genügen.

Weiß der Bischof überhaupt, welche Ansprüche unsere Armen an den Sozialstaat stellen können? Hartz-IV-Empfänger erhalten nicht nur gratis Kost und Logis, sondern auch kostenlos Fernseher, Fahrkarten, Wohnungseinrichtungen, Heizkosten, Krankenversicherung, Rentenversicherung. Wie passt all das mit der angeblich von unserer Gesellschaft verschuldeten Armut zusammen? Hartz IV ist ein von Steuern und Abgaben zahlender Mitbürger finanziertes Armutsverhinderungsprogramm und damit genau das Gegenteil dessen, was uns ständig in den Talkshows eingeredet wird.

Obwohl die Moralisten vom Dienst – seien es nun Politiker, Gewerkschafter, Linksintellektuelle oder Gottesmänner – in den zurückliegenden Jahrzehnten selbst am wachsenden Wohlstand partizipiert haben, was sie automatisch der falschen Seite der Barrikade zuordnet, beklagen sie unablässig die Leiden auf der richtigen, das heißt der gerechten und menschlich hochwertigen Seite.

Dabei ähnelt die „moderne Armut“ nur noch entfernt dem, was man einst Armut nannte, und ich spreche nicht von der selbst verschuldeten Armut eines Alkoholikers, eines Verschwenders oder Bankrotteurs.

Trotzdem schaffen wir uns die entsprechende Illusion. Wir bezahlen ordentlich dafür, dass es die „richtige“ Seite der Barrikade gibt. Wie der Begründer der klassischen Volkswirtschaftslehre, David Ricardo, schon vor über 200 Jahren sagte: „Wenn jeder Mensch, der Unterstützung benötigt, sicher sein könnte, sie zu erhalten, (...) dann würde sich seine Anstrengung allein darauf konzentrieren, diese Unterstützung zu erlangen.“ Das gilt heute auch noch.

Die Moralprediger, die überall Armut sehen, weil ihre Weltanschauung es fordert, haben in Wahrheit gerne am wachsenden Wohlstand unseres Landes teilgenommen. Die anderen auch, alle anderen. Die Gehälter, ob für Bischöfe, Bundestagsabgeordnete oder Studienräte, sind gestiegen. Die Sozialleistungen und Renten ebenfalls. Ob jemand arbeitet oder nicht arbeitet, ob er Bayer, Mecklenburger, Anatolier oder Migrant aus Burkina Faso ist: Er hat teilgenommen am Überschuss, der durch die Volkswirtschaft, leider auch durch Schulden, finanziert wurde. Trotzdem wird uns täglich gesagt, die Armen würden immer ärmer.

Keiner unserer Gutmenschen scheint wahrgenommen zu haben, dass in der gegenwärtigen Weltfinanzkrise, der schlimmsten seit Jahrzehnten, in erster Linie die Reichen betroffen sind. „Während die Reichen auch in Deutschland ärmer wurden“, schreibt die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ Ende Juli 2009 zu Recht, „hat die Krise die Armen hierzulande bisher kaum getroffen. Denn viele von ihnen beziehen Sozialleistungen, die genauso weitergezahlt werden wie zuvor.“

Dass die Armen durch die Globalisierung reicher geworden sind, dass Millionen Inder und Chinesen, die einst hungern mussten, heute nicht mehr hungern und sich eine kleinbürgerliche Existenz aufbauen konnten und dass in vielen Entwicklungsländern mit der Marktwirtschaft auch Demokratie und Menschenrechte Einzug gehalten haben, passt einfach nicht ins Bild. Eine Demokratie ohne Marktwirtschaft gibt es nicht, und umgekehrt – das zeigen Entwicklungen in Lateinamerika, Osteuropa und Asien – wird es über die Zeitachse auch in den Ländern so sein, wo das heute noch nicht der Fall ist.

Dieser Zusammenhang wird am wenigsten in Deutschland anerkannt. In diesem Land, welches nach Schweden die höchsten Sozialausgaben der Welt hat – Sozialausgaben, die steigen und steigen –, wird steif und fest behauptet, dass auch die Anzahl der Armen steige und steige.

Ohne die Armen wären ja die Gutmenschen verloren. Wenn es aber zu wenig Arme gibt, so schafft man sich welche.

Dass man darüber nicht offen sprechen darf, ist der eigentliche Skandal. Dieser beginnt schon mit der Definition von Armut: „Jeder, der weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens verdient, gilt als arm.“ Eigentlich heißt es, „befindet sich im Armutsrisiko“. Aber das hält diejenigen, die ein unbändiges Interesse daran haben, über möglichst viele „Arme“ lamentieren zu können, nicht davon ab, aus dem Risiko gleich eine Tatsache zu machen.

Es wird aber noch mehr manipuliert: Früher lag die Schwelle bei nur 50 Prozent. So hat man, allein durch einen statistischen Trick, die Anzahl der im Armutsrisiko Befindlichen um einige Millionen angehoben. Es versteht sich von selbst, dass über die Änderung der statistischen Basis geschwiegen wurde. Dabei ist diese Formel, bei der jeder, der weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens verdient, als „arm“ zu gelten hat, sowieso unsinnig, denn sie blendet die reale Situation der „Armen“ völlig aus. Armut wird bei uns rein relativ definiert. Die Armutsformel ignoriert den tatsächlichen Lebensstandard und ersetzt ihn durch den Grad der erreichten Gleichheit.

Das lässt sich an zwei Beispielen einfach demonstrieren. Man stelle sich vor, alle, die Armen und die Reichen, würden morgen jeweils das Doppelte ihres heutigen Einkommens beziehen: Wir hätten immer noch genau soviel „Arme“ wie vorher. Oder man würde festlegen, dass alle, Arme wie Reiche, morgen nur noch 500 Euro im Monat bekämen: Wir hätten überhaupt keine Armen mehr. Würde man die Armutsformel auf beide Teile Berlins anwenden, käme heraus, dass es im Westen mehr Arme gibt als im Osten! Nebenbei sei erwähnt, dass die Einkommen aus Schwarzarbeit, die bei uns auf inzwischen 16 Prozent aller geleisteten Arbeitsstunden gestiegen ist, sowieso in keiner Statistik enthalten sind.

Natürlich muss man auch für eine gerechte Verteilung des Wohlstandes in einer Gesellschaft sorgen und alle Daten statistisch erfassen. Aber der einseitige Blick auf die Verteilung darf doch nicht zu Lasten des absoluten Lebensstandards gehen.

Wenn mit jedem auswandernden Bezieher eines überdurchschnittlichen Einkommens die hier Verbleibenden statistisch „reicher“ werden, dann stimmt doch etwas nicht. Wenn jeder zuwandernde Wohlhabende uns statistisch „ärmer“ macht, auch nicht. „Die Zunahme Einkommensschwacher“, so der Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel, „ist in Deutschland zu drei Vierteln durch Einwanderer bewirkt.“ Ich möchte ergänzen: auch durch die Auswanderer. Denn ungefähr zur gleichen Zeit, als die deutsche Politik endlich bemerkte, dass wir ein Einwanderungsland geworden seien, hat das schon nicht mehr gestimmt. Inzwischen sind wir ein Auswanderungsland geworden. Sowohl im letzten wie auch im vorletzten Jahr haben mehr Deutsche das Land verlassen, als Zuwanderer nach Deutschland kamen. Das Fatale dabei: Es sind meist die gut ausgebildeten und besser verdienenden Menschen, die in die Schweiz, nach Österreich oder nach Kanada ziehen, während ein großer Teil der Zuwanderer gleich in unseren Sozialversicherungssystemen „verschwindet“.

Im übrigen ist es verlogen, wenn man weiterhin von der auseinanderklaffenden Schere zwischen arm und reich schwadroniert, zeigen doch die Fakten, dass nach 2005 die Unterschiede zwischen Arm und Reich in Deutschland, also auch die relative Armut, nicht etwa gestiegen, sondern gesunken sind. 2006 bezogen etwa 14 Millionen Menschen weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens, im Vorjahr waren es noch eine Million mehr. Die Korrelation zwischen der Fähigkeit, Arbeitsplätze zu schaffen, und relativer Armut ist eindeutig. Die sogenannten Hartz-Reformen, die den Sozialhaushalt ja nicht verringerten, sondern erhöhten, haben nicht nur neue Arbeitsplätze geschaffen, sie haben auch die relative Armut in Deutschland gesenkt.

Auch die vor wenigen Tagen vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten Zahlen für 2007 bestätigen: Von einem Trend zunehmender Armut kann weiterhin keine Rede sein. Für eine Familie, bestehend aus zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren, belief sich der Grenzwert, unter dem man von „Armutsrisiko“ sprechen kann, auf sage und schreibe 1917 Euro monatlich, wohlgemerkt netto.

Spätestens jetzt stellt sich die Frage, warum der damalige Arbeitsminister Olaf Scholz bei der Veröffentlichung des 3. Armutsberichtes diesen Trend im zurückliegenden Wahlkampf nicht als Erfolg dargestellt und stattdessen weiter über die angeblich steigende Armut lamentiert hat. Warum hat er aus dem „Armutsrisiko“ kurzerhand „Armut“ gemacht? Warum hat er die Zahl der sich im „Armutsrisiko“ Befindlichen durch Hinzunahme derjenigen verdoppelt, die durch Transferleistungen nicht einmal mehr diesem Risiko ausgesetzt waren?

Die Antwort liegt für mich auf der Hand: Sozialpolitiker brauchen die Armut, um möglichst viel Mitleid, Entsetzen und Empörung auf die Mühlen ihrer Politik zu lenken. Daran, dass Politiker es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen, habe ich mich gewöhnen müssen, nicht aber daran, dass Gottesmänner es ihnen gleich tun.

Dafür wird jetzt alles versucht, in der Zukunft doch wieder Recht zu behalten: Wenn fast ausnahmslos alle unabhängigen Wirtschaftswissenschaftler vorrechnen, dass ein flächendeckender Mindestlohn von 7,50 Euro zum Verlust von etwa 1 Million offizieller Arbeitsplätze führt, dann sorgen die Sozialpolitiker, die sich dafür stark machen, vor allem für die Sicherheit ihres eigenen Arbeitsplatzes. Unter Hinweis auf die dann wieder gestiegene Arbeitslosigkeit werden sie bald neue Sozialleistungen fordern. Mit der dann wieder zunehmenden „relativen Armut“ besorgen sie sich neue Munition für ihre Kritik an „den Verhältnissen“.

Natürlich gibt es Armut. Vor zwei Wochen war ich beim Martinsgans-Essen der Berliner Stadtmission am Hauptbahnhof. Meist ehrenamtliche Mitarbeiter sorgen dort in eindrucksvoller Weise für Kältebusse, Nachtlager und warmes Essen. Die Anzahl bedauernswerter Mitmenschen, die aus verschiedenen Gründen aus der Bahn geworfen wurden, steigt. Wir müssen deshalb immer bereit sein, beides zu tun: die Symptome zu lindern und uns mit den Ursachen der Armut in Deutschland zu befassen. Die derzeitige „Arbeitsteilung“ in diesem Land ist jedoch eine schreiende Ungerechtigkeit: Sozialpolitiker, die mit populistischen Scheinrezepten dazu beitragen, Arbeitsplätze zu vernichten, nachfolgenden Generationen Schuldentürme zu hinterlassen und Armut zu verursachen, reklamieren hohes Ansehen. Menschen, wie die Mitarbeiter der Berliner Stadtmission, die sich für die Linderung der Folgen von Armut einsetzen, werden hingegen öffentlich zwar kaum wahrgenommen, aber sie erleben wenigstens Dankbarkeit vor Ort.

Denjenigen, die das zu Verteilende erst geschaffen haben, wird der Erfolg allzu oft geneidet, und diejenigen, die versuchen, an den Ursachen der Misere anzusetzen, und dafür unbequeme Wahrheiten aussprechen, werden regelmäßig verunglimpft. Auch die Armutsdebatte zeigt, dass man mit dem kostbaren Gut der Wahrheit bei uns zu sparsam umgeht. Armes Deutschland!

Hans-Olaf Henkel

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